FUSSBALL-WM 2022

Manuel Neuer über Vielfalt im Fußball: "Die Welt sollte dafür offen sein"

Manuel Neuer ist Deutschlands mächtigster Fußballer. Im Sports-Illustrated-Interview spricht er über die WM in Katar, den Wert von Freiheit und Vielfalt, seine Rolle als Kapitän und die sportlichen Ambitionen der DFB-Elf im Wüstenstaat. Für Neuer ist das Ziel klar.

Manuel Neuer by Markus Jans
Credit: Markus Jans
Sports Illustrated 05/22
Manuel Neuer und Leon Goretzka im Exklusiv-Interview
Die neue Ausgabe von Sports Illustrated mit Manuel Neuer und Leon Goretzka im Exklusiv-Interview
Sports Illustrated 05/22
Manuel Neuer und Leon Goretzka im Exklusiv-Interview

Inhalt

  • Manuel Neuer im Sports-Illustrated-Interview
  • DFB-Kapitän Neuer über sportliche und politische Ambitionen in Katar
  • Neuer: "Habe keine Angst davor, auszusprechen, dass wir Weltmeister werden wollen"

Sports Illustrated: Zum Fotoshoot für dieses Interview kamen Sie in einer bunt gemusterten Jacke und einer Hose aus der Pride Collection von Adidas (Bild unten). Wollten Sie damit bewusst ein Statement setzen?

Manuel Neuer: Nein, das nicht. Aber die Sachen sind cool, ich trage sie sehr gerne in meiner Freizeit. Mein Fußballschuh hat die gleichen bunten Farben an der Oberseite, man kann die Regenbogenfarben erkennen. Ich finde es grundsätzlich gut, sich etwas zu trauen und mehr Farbe zu tragen als früher. Bei der Europameisterschaft 2021, die während des Pride-Monats stattfand, hatte ich auch die Binde in Regenbogenfarben am Arm. Es ist schön, diese Bewegung zu unterstützen, auszudrücken, dass wir alle vielfältig sind, dass man niemanden ausgrenzt. Dass wir Nationalspieler uns daran beteiligen, ist selbstverständlich.

Manuel Neuer by Markus Jans
Manuel Neuer in einer Trainingsjacke aus der Pride Collection von Adidas
Credit: Markus Jans
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Sports Illustrated: Was bedeuten Ihnen die Themen Vielfalt, freie Wahl?

Neuer: Es ist ein gewisses Freiheitsgefühl. Auch Menschen, die früher vielleicht Probleme bekommen haben, können heute viel freier kommunizieren – und sich vielleicht auch über ihre Kleidung ausdrücken. Dieses Freiheitsgefühl sollte niemandem genommen werden. Auch um anderen zu zeigen, dass wir in einer Demokratie und in Freiheit leben: Wir können alle so sein, wie wir wollen, wie wir leben und lieben möchten. Das passt in unsere Zeit – und die Welt sollte dafür offen sein.

Sports Illustrated: Auf der gegenüberliegenden Seite sieht man Sie im neuen Torwarttrikot der Nationalmannschaft. Was symbolisiert dieses Jersey für Sie?

Neuer: Es ist immer etwas ganz Besonderes, unsere Trikots tragen zu dürfen. Wir sind immer sehr gespannt, wie sie aussehen, wie Schnitt, Komfort und natürlich die Farben sind. Für mich ist es jedes Mal ein ganz spezieller Moment, ich bin schließlich der Einzige, der ein andersfarbiges Trikot anhat, das der Feldspieler ist ja meistens schwarz-weiß oder rot.

 

Sports Illustrated: Bei der WM in Katar tragen Sie eine bunte Kapitäns­binde mit der Aufschrift „One Love“. Wie kam das zustande?

Neuer: Die letzte EM fand ja während des Pride-Monats Juni statt – und innerhalb vieler europäischer Mannschaften haben wir entschieden, dass wir ein Zeichen setzen müssen. Wie im Achtelfinale gegen England, als wir uns gegenseitig unterstützt haben: Wir haben den Kniefall der Engländer mitgemacht, Harry Kane hat wie ich die Regenbogenbinde getragen. So ist die Idee durch die europäischen Nationalteams entstanden, dass wir auch in Katar gemeinsam Flagge zeigen. Wir wollen gebündelt diese Vielfalt und Freiheit demonstrieren. Wir verstecken uns mit „One Love“ nicht, auch wenn uns vorgeworfen wurde, dass es keine Regenbogenflagge ist. Wir treten noch geschlossener auf und zeigen nach außen das Wir-Gefühl, dass nicht nur eine Nation sich engagiert, sondern dass wir das zusammentun.

Manuel Neuer
Manuel Neuer – hier bei einem Testspiel – mit der "One Love"-Kapitänsbinde. Im ersten WM-Spiel gegen Japan wird Neuer nicht tragen, um Sanktionen von Seiten der FIFA zu vermeiden
Credit: Imago
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Sports Illustrated: Wie intensiv wird in der Kabine und innerhalb der Mannschaft über Themen wie Katar gesprochen?

Neuer: Der ein oder andere unserer Spieler war schon in Katar, die Bayern-Spieler kennen das Land aus den Trainingslagern. Auch in den U-Nationalmannschaften hatten wir Trainingslager in Katar. Die meisten haben also schon Erfahrungen vor Ort gesammelt. Dazu gab es jetzt Info-Veranstaltungen des DFB, wo uns nahegebracht wurde, was vor Ort wirklich passiert und wie man sich darum bemüht, dass die Situation besser wird. Wir für unseren Teil können das durch den Sport vielleicht beschleunigen.

Sports Illustrated: Wie kann das gelingen?

Neuer: Wir versuchen, Flagge zu zeigen: dass wir für Freiheit stehen, gegen Diskriminierung und Ausgrenzung sind und für die besten Bedingungen für die Menschen, die dort vor Ort arbeiten und leben. Das ist uns extrem wichtig. Aber wir sind keine Politiker und nicht diejenigen, die entscheiden, was vor Ort passiert – und dass die WM dort stattfindet. Katar ist nicht das typische Fußball-Land für uns. Ich freue mich als Spieler natürlich eher über eine WM in Brasilien oder EM in Frankreich. Katar ist in diesem Zusammenhang für mich etwas Neues, ebenso der Zeitpunkt, zu dem die WM stattfindet. Auch darauf haben wir keinen Einfluss, das sind sportpolitische Entscheidungen. Wir als Fußballer können versuchen, das von mir Angesprochene zu transportieren.

Sports Illustrated: Wurden Sie und die Mannschaft auch gebrieft, wenn diese Fragen vor Ort im Land des Gastgebers gestellt werden? Befindet man sich dann möglicherweise im moralischen Zwiespalt?

Neuer: Das Wichtigste ist, dass wir uns als meinungsstarke Spieler vor Ort in einem Interview nicht verstecken oder Angst haben. Jeder sollte seine Meinung äußern. Natürlich findet dort ein WM-Turnier statt, auf das sich jeder alle vier Jahre freut, das das Größte ist für einen Fußballer. Das sollte nicht zu kurz kommen. Wenn wir in Katar sind, soll es in erster Linie um den Sport, die WM gehen. Aber dass irgendjemand von uns mundtot gemacht wird: Ich kann mir nicht vorstellen, dass das bei uns passieren wird.

Sports Illustrated: Das WM-Thema wird unter den Fans viel diskutiert, es gibt Boykott-Aufrufe. Wenn Sie Zuschauer wären: Wie würden Sie das Turnier verfolgen?

Neuer: Das wäre sehr schwierig für mich, weil ich die Turniere, die ich als Fan erlebt habe, immer mit dem Sommer in Verbindung gebracht habe: Beim Public Viewing in Gelsenkirchen, draußen bei Freunden, beim Grillen. Es ist schwierig, sich vorzustellen, wie das im November und Dezember sein wird, mit Glühweinparty und Punsch oder beim Eisstockschießen ... Wir hoffen aber, dass wir durch unser Spiel die Zuschauer catchen können und ein kleiner Hype entsteht.

Sports Illustrated: Der Fußball und speziell die WM werden aktuell von so vielen politischen Diskussionen begleitet wie selten zuvor. Wie belastend ist das für Sie als Spieler? Kann man das denn ausblenden – und einfach nur Fußball spielen?

Neuer: Das ist heutzutage schwierig, weil so viele Sachen eine Rolle spielen – gerade bei den Turnieren: die Townships in Südafrika, die Favelas in Brasilien, die Olympischen Turniere in China... Es gab immer gesellschaftliche Themen – und die Sportler wurden und werden danach gefragt. Für uns ist das normal, es gehört dazu, und wir sollten auf jeden Fall unsere Meinung sagen. Momentan befinden wir uns da auf dem richtigen Weg, und ich hoffe, dass wir uns von unserer besten Seite in Katar zeigen können. Aber wir müssen daran den­ken: Wenn wir auf dem Platz stehen, dann zählt nur der Fußball, dann müs­sen wir alles geben.

Sports Illustrated: Es ist Ihre vierte WM nach 2010, 2014 und 2018 – die drei bisherigen könnten kaum unterschiedlicher verlaufen sein. Machen Sie doch mal eine kleine Zeit­reise für uns von Südafrika über Brasi­lien bis nach Russland.

Neuer: Die Erwartung vor jedem Turnier an uns war immer sehr unterschiedlich. 2010 hat nicht jeder mit diesem Ab­schneiden gerechnet – und ich nicht damit, dass ich im Tor stehe. Da hatten wir eine relativ junge Mannschaft, Stammtorwart René Adler und Kapitän Michael Ballack hatten sich vor dem Start verletzt. Wir haben auf unserem Weg ins Halbfinale gute Gegner ge­schlagen und dadurch in Deutschland einen gewissen Hype ausgelöst. Dann sind wir an Spanien, dem späteren Weltmeister, relativ knapp mit 0:1 ge­scheitert. 2014 war einmalig mit der Atmosphäre, dem Campo Bahia, der Leidenschaft der Zuschauer vor Ort. Es war ein unvergessliches Erlebnis, in so einem Fußballland Weltmeister zu wer­den. Über Russland wurde auch viel gesprochen, wobei das Turnier auch ganz anders hätte laufen können. Wenn wir das erste Spiel gegen Mexiko nicht verlieren oder Kleinigkeiten anders laufen, auch gegen Südkorea: Es wäre nicht ausgeschlossen, dass es bis zum Ende gegangen wäre, wenn wir in der Gruppe weitergekommen wären. Es sind immer Kleinigkeiten, die ent­scheiden. Leider hat es uns da eiskalt erwischt.

Manuel Neuer by Markus Jans
Deutschlands Nummer 1 versteckt sich nicht: Manuel Neuer fordert von seinen Teamkollegen in Katar Meinungsstärke
Credit: Markus Jans
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Sports Illustrated:  Motivieren diese Erinnerungen jetzt ganz besonders?

Neuer: Nein. Was vor vier Jahren passiert ist, ist nicht ausschlaggebend für diese WM. Jeder von uns ist heiß, wir haben eine Top­-Mannschaft mit einer sehr hohen Qualität. Diese müssen wir natürlich ab­rufen, um bis zum Ende dabei zu sein.

Sports Illustrated: Welche WM haben Sie als Kind intensiv verfolgt, hat­ten Sie damals schon Torhüter im Blick, die Ihnen imponiert haben?

Neuer: Die erste war 1990. Ich war an Fußball interessiert und habe selbst gespielt, aber so wirklich wusste ich als Vierjähriger nicht, was da abläuft. So viele Erin­nerungen habe ich nicht mehr daran, aber ich habe mitbekommen, dass wir Weltmeister geworden sind. Man kriegt eher mit, was zu Hause mit dem Bruder und den Eltern vor dem Fernseher abläuft, genauso wie bei den Turnieren in Wimbledon mit Boris Becker. Intensiver war dann 1994 in den USA. An das Aus­scheiden gegen Bulgarien (1:2 im Viertelfinale, Anm. d. Red.) kann ich mich noch erinnern, auch an die Trikots.

Sports Illustrated: Welches Modell waren Ihre ersten Torwarthandschu­he, die Sie bekommen haben? Von Bodo Illgner? Oder Oliver Kahn?

Neuer: Weder noch. Von Sepp Maier habe ich mal ein Tor­warttrainingsbuch geschenkt bekommen. Und dann später Videokassetten von der Ajax­-Torwartschule. Da habe ich Edwin van der Sar gesehen, es hat mir sehr imponiert, wie er trainiert hat. 1997 sind die Eurofighter von Schalke mit Jens Lehmann im Tor UEFA­-Cup­-Sieger geworden, ich als Gelsenkirchener fand Lehmann natürlich cool. Das waren meine Torleute: der Ehrgeiz von Oliver Kahn, das Spieleri­sche von Edwin van der Sar und Jens Lehmann als Schalker.

Sports Illustrated: Wie haben Sie sich über die Turniere auf dem Platz entwickelt – als Torwart und Charakter?

Neuer: Ich bin natürlich erfahrener geworden, habe viele Spielsituationen schon öfter erlebt. Das bringt Ruhe mit sich, und man weiß mit der Zeit besser, wie man auf eine Mannschaft einwirken kann, wie man Tem­po rausnimmt. Ich habe mich über die vergangenen Jahre mit meinem Torwartspiel der eigenen Mann­schaft mehr und mehr angepasst. Ich versuche aber nach wie vor, offensiv zu spielen.

Manuel Neuer by Markus Jans
Mit den Jahren ist Manuel Neuer zwar ruhiger und erfahrener geworden, sein Status als einer der Top-Torhüter weltweit ist allerdings auch mit jetzt 36 unbestritten
Credit: Markus Jans
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Sports Illustrated: Sprechen Sie heute mehr auf dem Platz als früher?

Neuer: Genauso viel. Ich habe früher auch viel von hinten raus gecoacht. Natürlich hatte ich als 20-Jähriger auf Schalke ein bisschen mehr Respekt, wenn ich einen 30-jährigen Marcelo Bordon vor mir hatte. Heutzutage ist es einfacher für mich, zu dirigieren, zu coachen, auch mal strenger mit den Vorderleuten zu sein. Aber ich versuche, immer die Sachen mit auf den Weg zu geben, die der Mannschaft am besten helfen. Es kommt darauf an, Sinnvolles zu sagen. Nur weil ein Torwart oder Spieler auf dem Platz coacht, macht er nicht automatisch die richtigen Dinge. Wer laut ist, ist nicht unbedingt auch ein Führungsspieler.

Sports Illustrated: Wie interpretieren Sie die Rolle als Kapitän?

Neuer: Die Binde hat über die Jahre bei mir nicht viel verändert. Ich bin Ansprechpartner der Spieler, des Trainerteams – aber entweder man ist ein Führungsspieler, der sich etwas zutraut, eine Meinung hat und der Mannschaft damit helfen kann, oder man ist es nicht und fühlt sich in einer anderen Rolle wohler.

Sports Illustrated: Erstmals steht bei einem DFB-Turnier mit Ihnen im Tor nicht Jogi Löw als Chefcoach an der Seitenlinie. Was ändert sich durch Hansi Flick und sein erstes Turnier als Trainer?

Neuer: Als Cheftrainer, muss man sagen. Er hat als Co-Trainer ja schon viele Turniere miterlebt. Dadurch habe ich eine sehr enge Bindung zu ihm, wir kennen uns schon sehr lange, auch über die Arbeit hinaus. Nach seiner Zeit bei der Nationalmannschaft hatten wir immer Kontakt und haben uns ausgetauscht, auch privat. Wichtig ist mir, dass man sich offen und ehrlich alles ins Gesicht sagen kann. Das mag ich sehr an ihm, dass ich kein Blatt vor den Mund nehmen muss, sondern ehrlich sein kann – auch wenn ich der Meinung bin, dass er etwas nicht so gut gemacht hat. Da gehe ich mit ihm nicht anders um, als ich es mit einem Spieler tun würde, sondern kann meine Meinung einfach raushauen.

Sports Illustrated: Im November wird in Katar ein ganz anderes, viel wärmeres Klima als in Deutschland herrschen, es bleibt nur eine Woche Zeit zur Vorbereitung. Kann es von Vorteil sein, dass Hansi Flick so ein Improvisationskünstler ist, der ja auch das Final-Turnier der Champions League mit dem FC Bayern 2020 in Lissabon erfolgreich durchgezogen hat? Ist er ein Mann für ungewöhnliche Turnier-Formate?

Neuer: Damals mit Bayern hatten wir ja im Lockdown eine gewisse Vorbereitung, haben mit Konzept und Plan zu Hause gearbeitet. Jetzt muss die Nationalmannschaft sich auf die Vereine und jeden einzelnen Spieler verlassen können. Das Gute an unserem Trainerteam ist, dass es sehr präsent ist, es ist stetig im Kontakt mit den Spielern und Vereinstrainern.

Sports Illustrated: Der WM-Titel muss das Ziel sein. Wie offensiv gehen Sie dieses Thema an?

Neuer: Ich habe keine Angst davor, auszusprechen, dass wir Weltmeister werden wollen. Dass das viele Nationen wollen, ist uns klar. Vieles spielt eine Rolle, wir brauchen das richtige Momentum. Natürlich lief nicht alles wie am Schnürchen. Wir hätten uns bessere Ergebnisse gewünscht in den letzten Spielen vor der WM gegen Ungarn und gegen England. Aber sobald der Anpfiff im ersten Spiel gegen Japan ertönt, wissen wir, dass es zählt.

Sports Illustrated: Finden Sie es gut, dass mit Spanien gleich ein extrem starker Gegner in der Vorrunde mit dabei ist?

Neuer: Ich mag es, gegen Mannschaften zu spielen, bei denen man den Gegner kennt. Welche Qualität die Spanier haben, ist bekannt. Über das letzte Spiel (0:6 in Sevilla im November 2020, Anm. d. Red.) brauchen wir nicht mehr zu sprechen, da haben wir noch negative Erinnerungen.

Sports Illustrated: Wird Katar Ihre letzte WM?

Neuer: Man weiß nie, aber ich gehe davon aus, dass es die letzte WM für mich sein wird. Aber es muss nicht unbedingt so sein.

 


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