Fußball-Kolumne von Uli Hebel

Real Madrid: Ein unfassbares Team auf der womöglich letzten großen Welttournee

Fußball-Kommentator Uli Hebel (DAZN & Sky) blickt in seiner neuen Kolumne auf Real Madrid und Trainer Carlo Ancelotti. Von einigen belächelt, hat der 62-jährige Italiener sein Team ins Champions-League-Finale geführt - mit einem überragenden Toni Kroos.

Trainer Carlo Ancelotti und Toni Kroos von Real Madrid
Credit: Imago
  • Uli-Hebel-Kolumne über Real Madrid
  • Carlo Ancelotti hat Real Madrid wieder zum Leben erweckt
  • Toni Kroos erfolgreichster und profilschärfster deutscher Profi-Fußballer

Inmitten der nicht fotografierbaren Extase steht ein Ergrauter, spannt seinen rechten Bizeps an und posiert mit erhobenem Arm. Er ist der einzig Verakankerte; um ihn herum wissen die Vielen nicht, wen sie als erstes umarmen soll oder ob. Oder wohin mit sich und dem Wahrgenommenem. Der Mann dürfte, gnädig geschätzt, Mitte 70 sein und trägt ein Trikot mit der Nummer 9 auf dem Rücken. Benzema steht auf dem oberen schneeweißen Rücken, die Nummer Neun prangt darunter. Einer von so vielen mit derselben Uniform im Santiago Bernabeu am Abend des Champions-League-Halbfinal-Rückspiels zwischen Real Madrid und Manchester City.

Ich saß einige Meter oberhalb auf dem Kommentatorenplatz und weiß eine Woche später auch noch nicht genau, wo ich hin soll. Mit mir selbst und dem noch immer nicht verarbeiteten. Was ich schon begriffen habe – und Sie vermutlich vor mir: Dieses Real Madrid ist ein ganz Besonderes. Schon jetzt eine der legendärsten Spielerzusammenstellung in der Geschichte der Königsklasse. Im Generellen, weil der Kern der Spieler zwischen 2016 und 2018 drei Mal in Folge den Wettbewerb gewann und im speziellen Moment, weil sie in dieser Spielzeit drei Aufholjagden bewerkstelligt haben, die unmöglich replizierbar sind. Oder einfacher: Ein unfassbares Team auf der womöglich letzten großen Welttournee. Und auf Konzerten dieser Größenordnung braucht es Zugaben.

Carlo Ancelotti: Im Sinne des Erfolges mit Rückhalt seines Teams

Tage vor dem Vor-Endspiel gewann Real Madrid nach einem titellosen 2021 zum 35. Mal die spanische Meisterschaft. Vorzeitig mit einem gesunden Vorsprung. Es ist nicht der glamouröseste Titel – aber ein sehr entspannter und nicht zu unterschätzender. Vorjahresmeister Atletico war national nie so unangenehm wie in seinen beiden Viertelfinalspielen gegen ManCity, Barcelona nach Messi war zu lange zu sehr mit dem eigenen Chaos beschäftigt. Und dann ist da ja noch die Brillanz des späten Karim Benzema, des mit Abstand besten Spielers der Liga.

Carlo Ancelotti, zum zweiten Mal Trainer von Real Madrid, hat nicht revolutioniert bei Real. Er hat nur die Anforderungen erfüllt und seine Superkraft genutzt, absolute Gewinner weiter anzustacheln. Dabei nutzte er, was er hat.  Den Kern des legendären 17/18er-Jahrgangs, durch vereinzelte Erneuerungen flankiert. De facto haben 13 bis 14 Spieler die Meisterschaft gewonnen. Etwas, das "Carletto" oft als Ancelottisierung spöttisch vorgeworfen wurde und seinen Ruf in den vergangenen Jahren und Stationen angriff. Etwas, das Ancelotti locker mit einer Zigarre inmitten seiner "Freunde" locker wegpustete, wie er seine Spieler nach gewonnener Meisterschaft angesprochen auf ein heute schon legendäres Bild, bezeichnete. Ancelotti hat wenig experimentiert, nur leicht angepasst. Im Sinne des Erfolges. Mit dem Rückhalt seiner Mannschaft.

Toni Kroos (Real Madrid)
Toni Kroos (Real Madrid)
Credit: Imago / PanoramiC
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Ancelotti kam vor der Saison überraschend zurück zu Real. Er verließ dafür Everton nach zwei matten Jahren und Platz zehn in England. Ein Jahr später ist er der erste Trainer, der Meisterschaften in den fünf europäischen Topligen feierte. Und – am allerwichtigsten – ein Team zum Leben erweckte, das noch mindestens den einen letzten Ritt in sich hat.

Unbegreiflich, wie Deutschland mit eigenen Legenden umgeht

Im kommenden Jahr wird die Truppe mit Antonio Rüdiger und wohl Kylian Mbappe zwei Elitespieler dazu bekommen. Ansich war erst dann die neuerliche Dynastie in Europa geplant. Zu alt seien die Spieler, zu satt auf der einen Seite. Zu jung, zu wild auf der anderen. Vinicius Jr. wurde vor unsere aller Augen in dieser Saison zum Unterschiedsspieler, Rodrygo ist nach ManCity für immer Teil der Folklore. Benzema wird immer noch besser und entscheidender. Luka Modric, zwischenzeitlich schon als Mittelklasse kategorisiert, ist in der Lage, Spiele zu brechen. Mit einer Aktion. Und erlauben Sie mir die eine Ausfahrt: Toni Kroos, erfolgreichster und profilschärfster deutscher Profi-Fußballer, wird immer noch als "Querpass-Toni" verrissen. Ohne defensive Qualitäten. 1. Haben die das Halbfinale gesehen? 2. Überhaupt etwas in den letzten Jahren? Und 3. Ist das sehr deutsch: Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern können gar nicht begreifen, wie die Deutschen mit ihren Legenden umgehen. Undenkbar, dass ein Diego Maradona verlacht wird wie ein Lothar Matthäus. Oder ein Paul Scholes verklärt wird wie ein Toni Kroos. Und das ist die Kategorie.

Kader her, Taktiken hin. Die (bisherige) Saison Real Madrids ist nicht sportlich zu analysieren. Dazu bedarf es andere Ebenen. Die Energie, die dieses Team binnen Minuten, ungeachtet der Vergangenheit, entwickeln kann, ist einzigartig. Die Erfahrung, die Symbiose mit den Fans. Das "madre mia, wie?", das sie Spiele hat drehen lassen, die weg waren. Die Königlichen waren immer ein Team für besonderen Nächte und heroische Historie – auch in Sachen Aufholjagden. Dieser Jahrgang aber hat all das getoppt. So nah ich auch dran war, so wenig kann ich bis heute begreifen, was da Mittwochnacht passiert ist. Und genau das, das zu greifen, ist jetzt Aufgabe des FC Liverpool. Das, und auch dann mit dieser erfahrenen Eliteeinheit klarzukommen, wenn es über Rationales hinaus geht. Denn das ist ja fast sicher in diesen Tagen.

Ach, und: Sie werden es gemerkt haben. Jener eingangs beschriebene 70-jährige Mann ist ein Sinnbild für das Real Madrid im Jahr 2022. Er trägt mit einem unangreiflichen Selbstverständnis das weiße Trikot. Wenn alle anderen die Nerven verlieren (tretet vor, Manchester City) bleibt er standhaft. Und wer sagt überhaupt, dass Betagte nicht auch Kindliches haben dürfen. Eine wünschenswerte Nicht-Beachtung der Zeit und den starrsinnigen Konservatismus, dass die Dinge so bleiben sollen, wie sie sind. Und das heißt, Real Madrid gewinnt. Und auch, wenn Florentino Perez der Überzeugung ist, die aktuelle Champions-League-Norm reiche nicht, damit junge Menschen sich für den Fußball begeistern, bin ich mir ganz sicher: Auf jeden kindlichen Mittsiebziger mit angespanntem Bizeps kommt ein ganz junger Madritista mit doppelarmiger Bodybuilderpose. Vielleicht ja schon am 28. Mai in Paris. Zum Finale der Champions League.

Zur Person: Uli Hebel ist Fußball-Kommentator der ersten Stunde beim Streamingdienst DAZN. Er berichtet u.a. über die Bundesliga, die Champions League und Boxen. Bereits vor seiner Zeit bei DAZN arbeitete Hebel für den Pay-TV-Sender Sky, wo er seit 2021 die Premier League kommentiert.

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