Chelsea ist Geschichte! So wie wir den Klub seit 2003 kennen, wird er nie wieder sein
Auf den ersten Blick war der Sonntag im Londoner Westen ein ganz normaler. Alle Wettbewerber der Premier League haben zu diesem Zeitpunkt der Serie entscheidende Spiele. Der FC Chelsea konnte ein solches zuhause spät für sich entscheiden. Kai Havertz erzielt ein spätes Tor an der Stamford Bridge. Der Sir-Matthew-Harding-Stand feiert mal wieder den Matchwinner. Über den Anhängerinnen und Anhängern das Banner, das seit fast zwei Dekaden die Bridge ziert. Darauf zu sehen: Roman Abramowitschs Konterfei, daneben die Aufschrift „Roman Empire“. Alles im Layout der russischen Farben.
Wenn Sie das hier lesen, haben Sie garantiert auch (Sport)-Nachrichten in den letzten Wochen gesichtet. Und damit wissen Sie. Überhaupt gar nichts ist normal beim FC Chelsea im März 2022. Und ich spreche noch nicht einmal davon, dass der Gegner am Wochenende Newcastle United hieß und das Spiel damit das Aufeinandertreffen der ältesten und jüngsten Sports-Washing-Unternehmungen war.
FC Chelsea blüht unter Abramowitsch seit 2003 auf
Wenn Sie das hier lesen, haben sich vermutlich auch schon wieder neue Dinge entwickelt rund um den FC Chelsea. Als ich damals, Samstagabend vor dem EFL-Cup-Finale, die erste Pressemitteilung las, in der Abramowitsch sich offiziell aus dem operativen Geschäft zurückzog, war mir sofort klar: Das ist der Beginn eines einschneidenden Prozesses. Nicht nur für Chelsea, sondern für den gesamten europäischen Fußball.
Abramowitsch übernahm 2003 einen durchschnittlichen und trägen Verein und pimpte ihn zur Fußballweltmacht. Könnte man vernachlässigen, wo Abramowitsch die Mittel für dieses Lifting her hat, würde er vielleicht als der größte und erfolgreichste Sugardaddy des Spitzenfußballs in die Geschichtsbücher eingehen. Er hat nicht nur alle großen Titel nach Chelsea gebracht. Er hat er eines der besten Frauenfußballprogramme erschaffen, die marode Akademie der Blues zu einer echten Macht erzogen und auch kulturell hat er die Kommune bereichert. Abramowitsch (selbst jüdischen Glaubens) hat Jugendlichen mehr über den Holocaust beibringen lassen, als es das englische Schulsystem je tun wird. Damit einhergehend gleich einigen problematischen Fanlangern, die diesen leugneten und andere Teams rassistisch beleidigten. Aber: Man kann nun ein Mal nicht trennen, woher Roman Abramowitsch die Mittel für all diese Errungenschaften nahm.
Fußball in Europa wird nach Abramowitsch anders sein
Damit wir uns gleich richtig verstehen. Die Sanktionen sind vollkommen richtig. Der FC Chelsea ist einer kleiner Partikel in einem großen Sanktionsgeflecht zur Verdeutlichung, dass man auch ohne Angriffskrieg seinen Standpunkt klarmachen kann. Ich werde jetzt hier keine klugen Ratschläge verteilen, wie Dilemmata dieser Art zu lösen sind. Auch gebe ich weder geopolitische noch diplomatische, noch militärische Einschätzungen ab. Das können andere viel besser. Ich würde Sie ohnehin lieber mit sportlichen Einschätzungen zur Diskussion anregen wollen; dafür bin ich Sportjournalist geworden. Aber Sport und Politik sind nicht voneinander zu trennen. Eben nicht. Die simple Formel: Wer Business mit dem FC Chelsea macht, mach Business mit dem Besitzer.
Der heißt - noch - Roman Abramowitsch. Und weil dieser der bekannteste auf einer 204-namenstarken britischen Sanktionsliste ist, hat das britische Parlament genau das festgestellt und mit aller Härte reagiert. Der FC Chelsea ist eingefroren. Nur per Sondergenehmigung ist es den Blues aktuell erlaubt, weiterhin am Wettbewerb teilzunehmen. Um den Bürgerinnen und Bürgern keinen Schaden zuzufügen, werden Arbeitnehmende fortbezahlt; Dauerkarteninhabern ist es erlaubt, Heimspiele zu besuchen. Weitere geldeinbringende Maßnahmen wie Fanartikelverkäufe an Spieltagen sind untersagt. All das gilt bis zum Verkauf des Vereins. Das ist das einzige Geschäft, das Chelsea machen darf. Immerhin. Auch das war zwischenzeitlich ausgeschlossen.
Dass am Sonntag bei der Mannschaft auf dem Platz an der Fulham Road keine Symptome der letzten Wochen zu sichten waren, ist eine Riesenleistung. Denn logischerweise sind die Ereignisse für alle im Verein Thema. Und man möge mich verschonen, mit denen die jetzt ums Eck kommen, das geschehe denen recht und Tuchel und die anderen Sportler sind zu verurteilen, weil sie ja wussten, wo sie hinwechseln. Niemand hat in den Stunden vor oder nach dem Champions-League-Sieg vergangenen Sommer auch nur mit einem Nebensatz auf diese Dinge verwiesen. Genau so wenig dulde ich die, die "ihren" Verein als Opfer sehen. Mein Bruder (auch Kommentator) hat das Sonntagsspiel fürs deutsche Fernsehen kommentiert - und die unbelehrbaren Chelsea-Fanaten jeden seiner einordnenden Sätze. Nur ohne Kinderstube. Es scheint, als akzeptieren diese nicht einmal den Anflug einer Differenzierung. Ohne diese kommen wir aber nicht aus.
Thomas Tuchel findet richtige Worte in schwerer Zeit
Aber darf a) aktuell niemand weiteres Geld ausgeben, noch ist b) klar, wie die neuen Besitzer sich den Verein und damit das Trainerteam und Team vorstellen. Würde ich mich als Berufsfußballer einer solchen Unsicherheit aussetzen? Wie lange darf Rüdiger überhaupt sinnhafterweise warten, dass Chelsea wieder aufgetaut ist? Noch ist ja nicht einmal gewährleistet, dass Chelsea den Spielbetrieb finanziell überhaupt aufrechterhalten kann. Die Ausgabenseite wird ja nicht kleiner, wohingegen die Einnahmenseite sukzessive schrumpft. Der Hauptsponsor zum Beispiel setzt die einkalkulierten Zahlungen schon mal aus.
Auch die bisher Operierenden, allesamt Vertraute Abramowitschs, werden wohl auch keine Zukunft haben. Und noch nicht einmal Gegenwart; sind auch sie gewissermaßen versteinert aktuell. Mangels Ansprechpartnern haben vor allem zwei Menschen Chelseas Lage medial zu erklären, deren Aufgaben ursprünglich andere waren. Petr Cech, unfreiwillig technischer Direktor ohne Titel, seit Sonntag - und der Trainer, Thomas Tuchel. Dieser moderiert inzwischen schon traditionell viel besser, als es ein reiner Fußballtrainer überhaupt machen dürfte. Mit den richtigen Worten für alle gelichermaßen; Medienschaffende, Kriegsopfer, Mitarbeitende und Anhängende aus allen Lagern. Das war auch Sonntag wieder so. Das und Havertz Siegtor; mehr Normalität hat der FC Chelsea derzeit nicht zu bieten.
Zur Person: Uli Hebel ist Fußball-Kommentator der ersten Stunde beim Streamingdienst DAZN. Er berichtet u.a. über die Bundesliga, die Champions League und Boxen. Bereits vor seiner Zeit bei DAZN arbeitete Hebel für den Pay-TV-Sender Sky, wo er seit 2021 die Premier League kommentiert.
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