Kommentar

Fußballer wie Raufasertapeten: Warum die Nationalmannschaft ihre Fans verliert

Deutschland ist bei der WM ausgeschieden. Der Schmerz bleibt jedoch aus, zumindest bei Sports Illustrated Deutschland-Chefredakteur Christoph Landsgesell. Über sportliche Entfremdung, Gefühlskälte und das wahre Problem des Fußballs. Ein Kommentar.

Die deutsche Nationalmannschaft nach dem WM-Aus
Credit: Imago

Sie kennen das Gefühl sicher: Man wacht morgens langsam auf, es vergehen einige Sekunden, in denen sich die Ausläufer des Schlafs mit einem noch nicht ganz upgedateten Bewusstsein mischen. Dann gibt es einen Knall im Gehirn, und die Realität ist plötzlich da. Sorgen, Beziehungsprobleme, Ärger in der Arbeit, Krankheiten, finanzielle Ängste: Es fühlt sich an, als ob jemand all das in einen Sack packt und dem gerade Aufwachenden damit von hinten wie aus dem Nichts eins überzieht. Das tut dann – je nach persönlicher Lage und Empfinden – mal mehr, mal weniger weh. 

Bei wichtigen Fußballspielen, Welt- und Europameisterschaften ging es mir früher ähnlich. Das verlorene 2002er-Finale, das Italien-Aus 2006, das Finale dahoam 2012: Ich spürte den Schmerz des Ausscheidens noch eine Weile, bis er verschwand. 

Nationalmannschaft: Gefühlskälte und Entfremdung

Und heute Morgen? Keine Gefühle. Nix. Kaffeekochen, Kinder und Katzen versorgen, ach ja, Deutschland ist gestern aus der WM ausgeschieden, tja, da kann man nix machen. Die Zeit seit dem 4:2-Sieg gegen Costa Rica am Donnerstag war zwar nicht ausreichend für eine quantitative Erforschung des Geschehenen, aber ich vermute: Da geht es nicht nur mir so. 

 

Die Nationalmannschaft hat mich ein Stück weit verloren. Nicht erst seit gestern, nicht erst seit dem mittlerweile abgeschafften Slogan "Die Mannschaft" und weiteren missglückten Marketingmaßnahmen. Ich neige nicht zum Patriotismus (ganz im Gegenteil), doch zumindest für einige Wochen in den Sommermonaten ging ich früher schon mit. 2014, klar, 2016 ebenso. 2018 in Russland schon weniger, dann folgte die merkwürdige Corona-EM 2021 und nun der Winter-Tiefpunkt in Katar. Fußballgefühle nahe dem Gefrierpunkt. 

Täglich grüßt die "Charakterfrage": Fußballer wie Raufasertapeten

Warum die Nationalmannschaft und ich uns entfremdet haben, hat mehrere Gründe. Sicher spielt die Vergabepolitik der FIFA (siehe Russland und Katar) eine Rolle. Dann ist da die Frage der Charaktere (und damit meine ich nicht die Führungsspieler-Diskussion à la Effenberg). Bis auf den unfassbar guten Jamal Musiala und den nicht nur wegen seiner Zahnlücke herausstechenden Niclas Füllkrug waren das in den vergangenen Tagen raufasertapetengewordene Fußballspieler.

Sportliche Analysen lesen Sie an dieser Stelle übrigens nicht: DFB weg, Flick weg, Bierhoff weg, die Mannschaft weg, alle weg, diese ganzen üblichen Reflexe bedienen andere. Außerdem halte ich diese Debatten für gar nicht so wichtig, wie sie heute und in den kommenden Tagen gemacht werden. 

Wenn das Verlieren nicht mehr schmerzt

Ich glaube, dass das Verhältnis mit der Nationalmannschaft an anderer Stelle krankt. Und dass hier das viel größere Problem des DFB liegt. Weil eine Nationalmannschaft ruhig ausscheiden kann, wenn sie mich mit ihrem Auftreten überzeugt, mich auf dem Weg mitnimmt und irgendwie emotionalisieren kann. Weil auch das Gewinnen nur einen wahren Wert hat, wenn das Verlieren schmerzt. Weil das das wirkliche Problem des Fußballs ist: Wenn er den Menschen egal wird. 

Übermorgen fliege ich nach Katar. Die deutschen Spieler sind dann längst daheim. Ich werde andere Partien im Achtelfinale sehen und keines der DFB-Elf. Mal schauen, ob es dann noch wehtut, wenn ich im Stadion sitze. Zumindest ein kleines bisschen. 


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