"Finale dahoam": Als Fußball-Deutschland zuletzt Mitleid mit Bayern hatte
Inhalt
- Das "Finale dahoam" von 2012 jährte sich im Mai zum 10. Mal
- Karl-Heinz Rummenigge: "Meine einzige Wunde, die noch nicht verheilt ist"
- bittere Niederlage 2012 war womöglich ursächlich für WM-Titel 2014
KAMPEN; DIE PROMI-GEMEINDE AUF SYLT – Ein herrlicher Ort zum Entspannen, die frische Brise lüftet Kopf und Gemüt. Jahr für Jahr erleidet Karl-Heinz Rummenigge in dieser Idylle schreckliche Pein. Er quält sich, meist gleich am ersten Urlaubstag. Die Familie ist genervt: „Papa, schaust du dir das schon wieder an?“ Ja, er kann nicht anders. Ja, er muss es tun. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende des FC Bayern München, neben Uli Hoeneß knapp 30 Jahre lang der große Macher des erfolgreichsten deutschen Klubs, schaut sich wieder und wieder das Champions-League-Finale von 2012 an, das der FC Bayern trotz grotesker Überlegenheit gegen den FC Chelsea verlor. Gibt es einen Fußball-Gott, hat der sich mit diesem Endspiel in der Allianz Arena einen schlechten Scherz erlaubt. Diesen Sommer wird sich Rummenigge das für Bayern so tragische „Finale dahoam“ bis zum bitteren Ende im Elfmeterschießen wohl zum zehnten Mal auf Sylt reinziehen. Friesisch herb.
Kalles Kasteiung dient einem Ziel. „Sie hilft, die Bodenhaftung zu behalten“, sagte der 66-Jährige. Als er im Sommer 2021 den Vorstandsvorsitz an Oliver Kahn übergab, verriet er, dass ihn diese Final-Niederlage immer noch verfolge. „Sie ist meine einzige Wunde, die noch nicht verheilt ist, sie tut unglaublich weh.“ So geht es allen, die an jenem milden Vorsommerabend dabei waren. Den Spielern, dem Trainerteam, den Vereinsmitarbeitern, den Fans. Für Bastian Schweinsteiger, der den letzten Elfmeter seiner Mannschaft vor der Südkurve an den Pfosten setzte, war es gar „der dunkelste Moment meines Lebens“. Alles schien vorbei, alle sportlichen Träume waren geplatzt. Ein Verein in Schockstarre. Das rauschende Siegerbankett im festlich geschmückten Postpalast geriet zur stillen Trauerfeier. „Das ist einer dieser Abende, an denen man sich fragt: Wäre es nicht besser gewesen, man wäre daheimgeblieben und hätte das nicht erlebt?“, sagte Rummenigge rund zwei Stunden nach Mitternacht mit stockender Stimme während seiner Trauerrede.
Nein, Einspruch! Denn jener Abend von Fröttmaning war ein Anfang. Dem FC Bayern und dem deutschen Fußball konnte eigentlich nichts Besseres passieren. Denn die wertvollste aller Niederlagen führte zu einer Kettenreaktion: Wembley 2013, Rio de Janeiro 2014. Ein Jahr nach Chelsea gewann Bayern den Champions-League-Titel im Bundesliga-Finale gegen Borussia Dortmund, wiederum ein Jahr darauf wurden zig Bayern-Profis mit der Nationalelf in Brasilien Weltmeister. Ursächlich für die beiden größten Jahre der jüngeren deutschen Fußball-Geschichte: das „Drama dahoam“.
2011 fiel der erste Dominostein dieser irren Story. Mit Jürgen Klopp, dem Dortmunder Meistermacher, dem „Pöhler“ vom Borsigplatz. Während die Bayern, in der Vorsaison unter dem kreativen wie kauzigen Trainer- und Feierbiest Louis van Gaal noch souveräner Double-Sieger und im Champions-League-Finale erst von Inter Mailand bezwungen, ein ganz und gar turbulentes Jahr erlebten. Die Fehde der Alphatiere van Gaal und Uli Hoeneß endete mit der Entlassung des widerspenstigen Holländers nach dem 29. Spieltag, sein Assistent Andries Jonker führte den angeschlagenen Verein noch auf den wichtigen Platz drei, der zur Qualifikation für die Königs- klasse reichte. Der BVB machte den Meistertitel bereits am 32. Spieltag klar, da hatten die Münchner bereits Jupp Heynckes, mit Bayer Leverkusen soeben überraschend Vizemeister geworden, für die nachfolgende Spielzeit verpflichtet.
Operation zurück in die Zukunft. Seit dem Jahrtausendwechsel hatten die Bayern sieben von zwölf Meisterschaften gewonnen – aus heutiger Sicht würde man einwenden: so wenige? Eine Titelverteidigung, wie sie den Schwarz-Gelben 1996 gelungen war, sähe man an der Säbener Straße als Majestätsbeleidigung an. Unmöglich – im doppelten Wortsinne. Es wurde: eine Wachablösung.
In der Hinrunde war Bayern dominant und wurde bis auf wenige Ausnahmen an der Tabellenspitze unter Heynckes Herbstmeister. Doch schon am 20. Spieltag folgte der Turnaround, die BVB-Stars um Torjäger Robert Lewandowski setzten sich oben fest. Fünf Spieltage vor Ende der Saison folgte am 11. April der große Showdown in Dortmund: Ein intensives Spiel um die Vorherrschaft im deutschen Fußball mündete in einer Zeitenwende. Bayerns tragischer Held: Arjen Robben. Nach Lewandowskis Führungstreffer in der 77.Minute verschoss der Holländer vier Minuten vor Ende der regulären Spielzeit einen Elfmeter. Dortmund baute seinen Vorsprung auf sechs Punkte aus, das Ding war durch. Bayern auch, Robben sowieso. Doch in München tröstete man sich mit dem Gedanken an die etwas mehr als vier Wochen später anstehende Revanche im DFB-Pokalfinale von Berlin.
Und überhaupt: Zum Zeitpunkt der 0:1-Pleite in Dortmund hatte man viel Größeres im Sinn. Nur sechs Tage später stand das Halbfinal-Hinspiel in der Champions League gegen den ewigen Rivalen Real Madrid an, also eine Etage höher. Dass Bayern erstmals seit 1996 in zwei aufeinanderfolgenden Spielzeiten nicht Meister werden würde, hatte einen faden Beigeschmack. Man wertete es jedoch als Kollateralschaden mit Blick auf den ganz großen Wurf. Denn auf diesem Wettbewerb lastete der tonnenschwere Druck.
IM JAHR 2009 VERGAB DER EUROPÄISCHE Fußballverband UEFA das Endspiel 2012 in die bayerische Landeshauptstadt. Für Präsident Uli Hoeneß der Startschuss seiner Vision vom „Finale dahoam“. Im Endspiel des wichtigsten Vereinswettbewerbs der Welt in der eigenen Stadt, vor den eigenen Fans, auf dem eigenen Rasen dabei zu sein – das war noch keiner Mannschaft gelungen. Als junger Selfmade-Manager verfolgte Hoeneß, wie Nottingham Forest 1979 im Münchner Olympiastadion den Europapokal der Landesmeister gewann und Olympique Marseille 1993 in der ersten Saison des neu gestalteten Vermarktungserfolgs namens Champions League triumphierte. Noch schlimmer für den rastlosen Hoeneß, der sich selbst als „ungeheuer, fast hoffnungslos ehrgeizig“ bezeichnete: das Finale 1997, als er von der Tribüne mitansehen musste, wie Bayerns größter Rivale Borussia Dortmund gegen Juventus Turin den Henkelpott klarmachte. Ein Trauma.
Uli Hoeneß: "Vergesst nicht: 2012 findet das Finale in München statt, und da müssen wir dabei sein."
Auf der Jahreshauptversammlung Ende November 2010 forderte Hoeneß vehement: „Egal wie, wir müssen die Qualifikation für die Champions League der kommenden Saison schaffen. Vergesst nicht: 2012 findet das Finale in München statt, und da müssen wir dabei sein.“ Er sagte: müssen! Und was Hoeneß sagte, kam einem Befehl gleich. Verstärkt durch eine emotionale Untermalung: „Das ist für all unsere Fans das Allerhöchste, was man miterleben kann. Das wird uns allen nicht noch einmal passieren.“
Die letzte Hürde? Die Königlichen. Nach einem 2:1-Erfolg zu Hause reiste man mit der größtmöglichen Portion Druck in die spanische Hauptstadt und rettete sich im Real-Tempel Estadio Santiago Bernabéu dank eines Elfmetertreffers von Arjen Robben (!) mit dem 1:2 in die Verlängerung, schließlich ins Elfmeterschießen. Während Toni Kroos und Philipp Lahm scheiterten, jedoch auch drei Real-Stars, unter anderem Cristiano Ronaldo, versenkte Bastian Schweinsteiger Bayerns letzten Elfmeter – geschafft. Die anschließende ekstatische Freude, die bajuwarische Gefühlsexplosion, war jedoch auch Ausdruck der Erleichterung. Man hatte Hoeneß’ Auftrag erfüllt. Nicht mehr und nicht weniger.
Der Gegner im „Finale dahoam“ hieß zur Überraschung aller nicht FC Barcelona, sondern FC Chelsea. Auch wenn es rund um die Säbener Straße niemand aussprechen wollte, aber das klang nach: machbar – im Vergleich zu Real oder Barça. Und dann auch noch dahoam.
Die verpasste Meisterschaft war längst abgehakt, in den Wochen vor dem Finale machte sich in München ein Gefühl breit, das man rund um den FC Bayern lange vermisst hatte: Euphorie. Sonst eine Floskel, in diesem Frühling stimmte es: Eine ganze Stadt, wenn man nicht gerade als verbissener Löwen-Anhänger dem Rivalen alles Schlechte der Welt wünschte, fieberte dem Endspiel entgegen.
Das Vorspiel fand in Berlin statt. Das DFB-Pokalfinale, das die Bayern durch ein siegreiches Elfmeterschießen im Halbfinale bei Borussia Mönchengladbach erreicht hatten, gegen die so nervig-erfolgreichen Dortmunder. Es musste schiefgehen. Zu emotional aufgeladen war das anschließende „Finale dahoam“, was Kraft und Konzentration raubte. Für den BVB dagegen war es die Gelegenheit zur ultimativen Demütigung: Beim 5:2 der Schwarz-Gelben traf Lewandowski drei Mal, ein schwarzer Abend für die Heynckes-Elf. Sie konnten ja nicht wissen, dass es eine Woche später noch schlimmer kommen würde. Trotzig war die Stimmung an jenem Abend in Berlin. Pah, es gibt so Tage. Sollen die Dortmunder doch ihr Double feiern, wir setzen mit dem Henkelpott noch einen drauf.
Ganz München flirrte vor dem "Finale dahoam": Alle und alles in Rot!
Wer mit den Roten sympathisierte, sprach in der Woche zuvor nur noch vom Endspiel. Bayern-Flaggen hingen aus Fenstern, an Häuserwänden. „Alle und alles in Rot“ war das Motto der Fans. Begleitet wurde die Vorfreude von einem Lied der Band Die Toten Hosen – ausgerechnet. Sänger Campino & Co., absolute Fans von Fortuna Düsseldorf, hatten nie einen Hehl aus ihrer Ablehnung gegenüber den Bayern gemacht. Und dennoch: Ihr neuer Hit „Tage wie diese“, Ende März 2012 veröffentlicht, erreichte Platz eins der Charts in Deutschland und die Herzen der Bayern-Fans. Als ungewollter Soundtrack der Aufbruchstimmung. Die erste Strophe wirkt, als hätte die Band den Song für dieses Finale geschrieben:
„Ich wart’ seit Wochen
auf diesen Tag
Und tanz’ vor Freude über den Asphalt
Als wär’s ein Rhythmus,
als gäb’s ein Lied
Das mich immer weiter durch die Straßen zieht
Komm’ dir entgegen,
dich abzuhol’n,
wie ausgemacht.
Zu derselben Uhrzeit,
am selben Treffpunkt
wie letztes Mal.“
FÜR SCHWARZMARKT-TICKETS WERDEN URLAUBE STORNIERT, Monatsgehälter bezahlt. Die beiden teuersten VIP-Tickets gehen bei Ebay zum Preis eines Mittelklassewagens weg – für 32.000 Euro. Ganz München ist eine einzige Leinwand: Jedes Restaurant, jede Bar, jeder Biergarten, jedes Kino rüstet sich für Live-Übertragungen. Eine Millionenstadt im kollektiven Public-Viewing-Fieber. Ins altehrwürdige, damals für Fußballspiele stillgelegte Olympiastadion pilgern 65.000 Fans, um das Finale im rund elf Kilometer entfernten Fröttmaning gemeinsam auf einer Megaleinwand verfolgen zu können. Auch auf der Theresienwiese, im Herbst Heimat des Oktoberfestes, installiert man eine gewaltige Videoleinwand – für das Fanfest mit 30.000 Zuschauern. München platzt aus allen Nähten. 180.000 Besucher reisen nur wegen des Spiels an. Ausnahmezustand. Britische Fans trinken den Wirten im Hofgarten oder am Chinesischen Turm die Biervorräte leer.
220 Länder übertragen die Partie, 300 Millionen Menschen sind live dabei. TV-Sender Sat.1, Rechteinhaber in Deutschland, sendet 20 Stunden aus München, 2.600 akkreditierte Medienvertreter berichten – Rekord. In der Arena in Fröttmaning fiebern 62.500 Zuschauer dem Anpfiff entgegen. Über die drei Ränge der Südkurve erstreckt sich die Choreografie der Bayern-Fans, für die von den Organisatoren der Fanclub-Vereinigung Club Nr. 12 ab Freitagfrüh Tausende rote und weiße Folien auf die Plätze gesteckt wurden. Es entstehen kurz vor Anpfiff: der Pokal der Sehnsucht, die Silhouette Münchens, der Dom, das Siegestor, das Olympiastadion. Dazu das Statement: „Unsere Stadt, unser Stadion, unser Pokal.“ Die europäische Krone scheint greifbar nahe. Der 19. Mai 2012 soll nicht weniger werden als: einer der größten, vielleicht sogar der größte Tag in der Geschichte des FC Bayern.
„An Tagen wie diesen
Wünscht man sich Unendlichkeit
An Tagen wie diesen
Haben wir noch ewig Zeit
In dieser Nacht der Nächte
Die uns so viel verspricht
Erleben wir das Beste
Kein Ende ist in Sicht.“
Vom Anpfiff weg sind die Rollen klar verteilt. Die Münchner suchen die Entscheidung, die Londoner wollen einen Rückstand verhindern. Angriff auf Angriff, aber nicht Chance auf Chance. Ein zähes Ringen um jeden Meter. Den Bayern fehlen die gesperrten David Alaba, Holger Badstuber und Luiz Gustavo – und der Esprit. Außerdem spürt man den tonnenschweren Druck auf den Schultern der Roten.
Dann plötzlich die Explosion der Emotionen: Thomas Müller trifft in der 83. Minute per Kopfballaufsetzer zur Führung, München taumelt siegesgewiss dem Triumph entgegen. Noch wenige Minuten zu überstehen. In der 88. Minute kommt der erste verhängnisvolle Moment des Abends für die Bayern: Didier Drogba köpft eine Ecke, die erste Ecke des FC Chelsea in diesem Spiel, zum Ausgleich ein. „And now: Goal!“ – das hatte Abwehrspieler David Luiz vor der Ecke noch Schweinsteiger zugerufen.
1:1, kein Sieger nach 90 Minuten. Ein Abnutzungskampf für Kopf und Körper. Das Blatt scheint sich wieder zugunsten der Bayern zu drehen: Elfmeter in der dritten Minute der Verlängerung. Für Arjen Robben die Chance, der Held des Finales zu werden – doch er schießt den Ball zu lasch. Chelseas Torhüter Petr Cech kann parieren. Bayern kann seine groteske Überlegenheit nicht in Tore verwandeln. Das Elfmeterschießen muss entscheiden.
JETZT ERST BEGINNT DAS EIGENTLICHE "DRAMA DAHOAM": Verzweifelt versucht Trainer Heynckes, fünf Elfmeterschützen zu finden. „Drei Spieler, die eigentlich prädestiniert gewesen wären, wollten nicht“, erinnert sich Heynckes, „und ich wollte keinen schießen lassen, der nicht wollte. Das hat man mir zum Vorwurf gemacht, dass ich keinen bestimmt habe.“ Rummenigge findet rückblickend noch drastischere Worte: „Es haben sich – auf Deutsch gesagt – fast alle verpisst. Sie sind weggeströmt, haben die Hand gehoben und gesagt: ‚Ich nicht!‘“ So muss Torhüter Manuel Neuer als dritter Schütze ran, verwandelt wie zuvor Kapitän Lahm und Mario Gomez. Chelseas Juan Mata scheiterte, Zwischenstand 3:1 für Bayern.
Wieder eine Hand am Pott, ein paar Finger der anderen Hand dazu. „Wir hatten drei Matchbälle“, hadert Rummenigge heute noch. „Wir haben 1:0 geführt in der 83. Minute. Wir hatten einen Elfmeter in der Verlängerung. Wir haben beim Elfmeterschießen nach dem dritten Elfmeter auch noch geführt – und trotzdem haben wir es nicht geschafft.“ Einfach unfassbar, alle Jahre wieder.
Dann verschießt der eingewechselte Ivica Olic, auch so eine Notlösung wie Neuer. Frank Lampard und Ashley Cole stellen auf 3:3. Noch je ein Schütze. Schweinsteiger und Drogba. Ein Rucksack voller Druck. „Vor dem Elfmeter hast du gemerkt: So ganz wohl fühlt Bastian sich nicht in seiner Haut“, will Rummenigge beobachtet haben. Sein Schuss ist nicht schlecht, gut platziert, aber Keeper Cech ahnt die Ecke, lenkte den Ball an den Pfosten. Schweinsteiger will nur noch weg. Sein Gesicht aschfahl, leer. Er versteckt es unter dem Trikot. „Ich wollte die enttäuschten Gesichter nicht sehen“, sagt er. Hinterher ist man klüger. Schweinsteiger wirft sich vor, den Ball nicht nach links geschossen zu haben, sei „die größte Fehlentscheidung in meinem Leben“ gewesen.
Drogba nutzt die Gunst der Fügung, verwandelt anschließend seinen Elfmeter leichtfüßig. Aus und vorbei. Der gespielte Witz wird Wirklichkeit: Chelsea ist Champions-League-Sieger. Ohne zu wissen, warum. Und einer ganzen Stadt wurde der Stecker gezogen. Koa Pott, koa Party. Selbst das Filet vom Oberländer Rind oder das Lachs-Carpaccio mit Limonen-Crème-fraîche auf dem Empfang schmecken bitter.
Es ist ein Stich ins Herz der Bayern. Ein sportlicher Schicksalsschlag. „Man kann es so sehen, dass dir in so einem Moment 400 Millionen Menschen beim Versagen zuschauen“, analysiert Ex-Torhüter Oliver Kahn, heute Bayerns Vorstandsboss, den Moment von Schweinsteigers Scheitern. „Und damit muss man jetzt fertig werden. Ich hab mich gefragt: ‚Kommt er da noch mal raus?‘“
Nicht nur der Elfmeter-Fehlschütze war fertig, der FC Bayern und seine Anhänger waren am Boden zerstört. Rummenigge erinnert sich: „Ich bin an Heerscharen von Fans, die aus dem Olympiastadion vom Public Viewing kamen, vorbei, habe eine Trambahn gesehen, das war ein Trauerzug. Ich habe in die Gesichter geschaut und mir gedacht: Mamma mia! Was ist hier los? Was für ein Schock hat diesen Klub gerade erreicht? Und wie verkraften wir das?“ Laut Hoeneß war „der ganze Verein eine Woche wie gelähmt. Transfers, Saisonvorbereitungen, andere Dinge, die hätten getan werden müssen: Eine Woche lang ging hier gar nix.“
Bis Thomas Müller eine Idee kommt. Er schreibt am Tag den Mitspielern eine SMS: „Kopf hoch, Jungs. Das, was passiert ist, tut extrem weh, aber nächstes Jahr schlagen wir zurück!“ Die Wut war ohnehin da, nun kehrt der Mut zurück. Langsam weicht die Ohnmacht. Es gibt personelle Konsequenzen und weitreichende Entscheidungen. Manager Christian Nerlinger muss gehen, mit Matthias Sammer installiert man einen Antreiber und Mahner als Sportvorstand. Für die – damalige, kontrovers diskutierte – Rekordablösesumme von 40 Millionen Euro wird Heynckes’ Wunschspieler Javi Martínez von Athletic Bilbao verpflichtet. Ein Schlüsseltransfer für das „Sport-Comeback des Jahres“, wie es Rummenigge ein Jahr später euphorisch ausrief.
Und was für eines das wird: Bayern gewinnt das Triple aus Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League. Es wird nicht weniger als: der größte Erfolg der Vereinsgeschichte. Mit der Krönung im Londoner Wembley-Stadion, als die Elf von Heynckes Dortmund durch das späte Tor von Robben mit 2:1 bezwingt. „Ich war einfach nur froh, dass wir es geschafft haben, uns zu belohnen“, sagt Schweinsteiger rückblickend, „nach dem Finale von München war es nicht einfach, aber wir haben zueinandergehalten.“ Für den Trainer war es dieser Schulterschluss, der den Triumph ermöglichte: „Die Mannschaft, der Staff, das Trainerteam und ich haben wegen des verlorenen Champions-League-Finales eine nie da gewesene Motivation verspürt.“ All dies sei nur erwachsen, „weil alle riesig enttäuscht waren von 2012“.
Mehr Wiedergutmachung, mehr Frustbewältigung, mehr Genugtuung ging nicht. 2014 gewinnt Joachim Löw mit der Nationalmannschaft in Brasilien den WM-Titel. Schweinsteiger, Müller, Neuer und Lahm sind auf dem Zenit ihrer Karrieren. Lahm ist sich sicher: „Die Niederlage im Finale dahoam war auch eine Motivation für alles, was dann kam: für den Sieg in London 2013, für die WM 2014.“
Immer wieder sind schmerzhafte Niederlagen im Sport der Nährboden für große Erfolge. Eben dann, wenn man Enttäuschung in Energie umwandeln kann. Was den Bayern bereits vor 2012 gelungen war. Das in den letzten Minuten dramatisch verlorene Champions-League-Finale 1999 gegen Manchester United, als in Barcelona eine 1:0-Führung binnen Sekunden in ein 1:2 kippte, gilt noch heute im Fußball als die „Mutter aller Niederlagen“. Es dauerte, bis man sich von dem Schock von Barcelona erholt hatte. Genauer gesagt, ganze zwei Jahre, ehe die Wunde in Mailand gekittet werden konnte. Im siegreichen Elfmeterschießen über den FC Valencia erlöste sich das Team um Stefan Effenberg und Oliver Kahn im Endspiel 2001 davon, das Trauma von 1999 nie wieder überwinden zu können.
Das Drama gegen Chelsea hatte also doch sein Gutes. Auch wenn’s den Bayern-Fans heute noch wehtut. Karl-Heinz Rummenigge quält sich ohnehin jedes Jahr aufs Neue. Aber im Wissen: Selbst aus der Trauer der Niederlage, hart und schwer wie Beton, erwuchs etwas viel, viel Größeres.
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