Kansas City Chiefs

Nahezu perfekt! Eine besondere Stärke von NFL-Star Burrow besitzt Brady nicht

Joe Burrow ist der Mann der Stunde. Dem Quarterback ist es erneut gelungen, die Cincinnati Bengals ins AFC Championship Game zu führen. Sein Spiel ist nahezu perfekt. Hinzu kommt, dass Burrow eine Stärke besitzt, die NFL-Superstar Tom Brady nicht hat.

Joe Burrow
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Inhalt

Weiches Moos, überwuchert von riesigen Farnwedeln, bedeckt eine Wand aus Felsbrocken, Gestrüpp und einer Art Metallverschalung mit Tigerstreifen. Der Mann, der sich das Ganze ausgedacht hat, timt seine Abläufe wie beim Militär. Wieder und wieder zählt er herunter, dann kündigt ein Zischen an, dass aus den Metallkanistern hinter dem Blattwerk gleich hohe Flammen schießen werden. 

DREI ... ZWEI ... EINS ... FFFFFFFFFFFFFTTTTTT! 
DREI ... ZWEI ... EINS ... FFFFFFFFFTTTT!
DREI ... ZWEI ... EINS ... FFFFFFFFFFFFFTTTTTT!

Die Geräusche und der Anblick erwecken den Eindruck, man befände sich im Regenwald, und dieser Regenwald würde jede Sekunde explodieren. Es ist Joe Burrows drittes Fotoshooting an diesem sonnigen Junitag im Südwesten von Ohio. Bei diesem hier geht es ums ganze Team, die Bilder sollen diesen Herbst über die Großleinwand im Paul Brown Stadium in Cincinnati flimmern.

Joe Burrow: Seine Gelassenheit ist einmalig

Im den vergangenen Stunden musste Burrow pantomimisch darstellen, wie er einen Football wirft, mit den Händen am Kragen posieren und den Football auf seinem Finger rotieren lassen. Jede dieser Aufgaben ging dem Mann, der die Bengals in der vergangenen Season durch einen der beeindruckendsten Super-Bowl-Auftritte in der modernen Geschichte der NFL führte, scheinbar mühelos von der Hand – so wie ihm so ziemlich alles scheinbar mühelos von der Hand geht. Trotzdem ziehen ihn zwei Mitarbeiter der Bengals auf: Als ihm der Ball aus den Händen springt und auf dem Boden landet, lachen sie lautstark in Nelson-Muntz-Manier. Irgendwann im Lauf des Tages unterhält sich Burrow sehnsüchtig mit einem Mannschaftskollegen darüber, was er jetzt für eine kalte Badewanne geben würde.

 

"WENN DIE LEUTE einen so anstarren und Fotos von einem machen, kommt man sich manchmal vor wie ein Tier im Zoo. Das ist ganz schön befremdlich", sagt Burrow, als er ein paar Minuten später eine Portion Hähnchen nach Szechuan-Art mit Naturreis und Brokkoli aus einer Tupperdose holt, alles zubereitet vom Ernährungsteam der Mannschaft, das hinter einem Tisch voller Büffettabletts herumwuselt, auf denen sich Grillgemüse häuft. Wie so ziemlich alles, was der 26-Jährige von sich gibt, scheint seine Äußerung weder positiv noch negativ gemeint zu sein. Er beschwert sich nicht über das Leben als Megastar, er geht nur einfach nicht gern an Orte, an denen er Autogrammwünsche abwimmeln muss. Er mag es nicht, wenn die Leute in seiner Gegenwart nervös werden.

Außerhalb seiner Verpflichtungen gegenüber der Liga gibt er nur selten Interviews. Vor gut vier Jahren – während seiner ersten Season an der Louisiana State University (LSU) – konnte er den Weg vom Tiger Stadium zu seinem Auto, das er damals noch am Straßenrand parkte, ohne Security zurücklegen. Ein Jahr später, auf dem Weg zum Titelgewinn mit den LSU Tigers, zog er ernsthaft in Erwägung, sich einen Bodyguard zuzulegen. (Und ja: Während er noch darüber spricht, wie unangenehm es ihm ist, pausenlos angestarrt zu werden, schreibt ein Reporter atemlos mit, was er sich zum Mittagessen bestellt.)

Er hat seinen Frieden mit dieser Existenzform geschlossen – einer Existenzform, die das Shooting perfekt auf den Punkt bringt. Vor seiner Ankunft ist hier nichts als die dunkle, unterste Etage eines Parkhauses. Als Burrow eintrifft, beäugt er skeptisch die künstliche Welt aus Hitze, Licht und Geräuschkulisse, aus plärrender Musik und menschengemachtem Pomp, für die extra ein Pyrotechniker kommen musste. Dann bummelt er mit kühler Gelassenheit in diese Welt hinein und passt sich nahtlos in sie ein. Ohne erkennbare Anstrengung wird Joe von nebenan zu Pomp-Joe. Welch passendes Symbol für einen Spieler, der so unerwartet von heute auf morgen zum Star wurde. Nun wartet eine ganze Stadt auf eine Fortsetzung seiner Performance in jenem magischen vergangenen Winter. Ob seine Gelassenheit genau das Zeug ist, das es braucht, um erneut liefern zu können?

Einige Tage vor dem Super Bowl LVI schickte Burrow eine Textnachricht an seine engsten Vertrauten, um klarzustellen, dass ihr wöchentliches Ritual trotzdem stattfinden würde. Dass er inmitten des plötzlichen Ruhms nicht übergeschnappt ist, hat auch mit seinen Xbox-live-Abenden zu tun, bei denen all seine Jungs von der Athens High, seiner ehemaligen Highschool, mit an Bord sind. Im Moment spielen sie "Star Wars Battlefront II", vergangenen Winter war es "Grand Theft Auto V". "Das ist es, worauf ich mich während der Season freue", sagt Burrow. "Ein bisschen Abstand vom Football gewinnen. Mit meinen Jungs abhängen."

Joe Burrow
Joe Burrow
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Während Burrow spricht, dämmert ihm, dass sich die Bengals als amtierende AFC-Champions in diesem Jahr fünf Primetime-Spiele eingehandelt haben, eins davon im "Monday Night Football", ein weiteres im "Thursday Night Football". In der vergangenen Season war es nur eins. Für die Xbox-Abende sind das keine guten Nachrichten, aber er wird entsprechende Vorkehrungen treffen, damit die Runde trotzdem stattfinden kann. Hier ist er von Leuten umgeben, die keine Sekunde zögern, sich über den NFL-Superstar lustig zu machen: Ooooh, schau mal an, hier kommt der große Mr. Quarterback!

NFL-Star Burrow: "Die Bezahlung heutzutage macht das wett"

ALL DAS IST TEIL des fast schon asketischen Lebensstils, den Burrow angenommen hat. Nach einem zweistündigen Workout spielt er Videospiele, und "wenn mir langsam die Augen wehtun, schaue ich fern". Meistens geht er um neun ins Bett, einen Wecker stellt er sich selten. Als die vergangene Season vorbei war, machte er Urlaub in Scottsdale, Arizona, im Haus seines Mannschaftskollegen Sam Hubbard, gefolgt von einem Abstecher in sein Elternhaus in Athens, Ohio.

NFL-Quarterback Joe Burrow (Cincinnati Bengals)
NFL-Quarterback Joe Burrow (Cincinnati Bengals)
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Er sagt, dass er viel Zeit mit Nachdenken verbringe. Wenn man ihn fragt, ob er sich in vergangenen Zeiten wohler gefühlt hätte, sagen wir, in den 1960ern, einem Jahrzehnt, in dem selbst Quarterbacks von Weltklasseniveau immer noch relative Anonymität genossen, scherzt er, dass der Spruch, er sei zur falschen Zeit geboren, wohl tatsächlich einen wahren Kern habe. Allerdings: "Die Bezahlung heutzutage macht das wett."

"Richtig normal fühle ich mich eigentlich nur, wenn ich mit den Jungs in der Umkleide bin oder mit meinen Highschool- oder College-Freunden rede", sagt Burrow. "Wenn ich neue Leute kennenlerne, ticken die regelmäßig aus. Dabei bin ich einfach nur ich. Alle, mit denen ich aufgewachsen bin, finden das Ganze ähnlich befremdlich wie ich."

Während seiner Rookie-Season achtete Burrow penibel darauf, sich jeden Tag beim Mittagessen an einen anderen Tisch zu setzen. Kameradschaft und deren Grundlagen, so sagte er, seien ihm aufrichtig wichtig. Aber nach einer Weile hörte er auf, sich darüber Gedanken zu machen. Wenn ein Platz frei war, setzte er sich einfach, ohne darauf zu achten, wer sonst noch am Tisch saß. 

Joe Burrow ist ein absoluter Teamplayer

Nach vier Siegen zu Beginn der 2021/22 war das Team so eng zusammengeschweißt wie nie. Dennoch blieben ihre Siege knapp. Die Bengals gingen in den ersten fünf Wochen zweimal in die Verlängerung, in zwei weiteren Spielen machten jeweils nur drei Punkte den Unterschied. Als sie am 24. Oktober in Baltimore einem Ravens-Team gegenüberstanden, das sie in der Vergangenheit fünfmal in Folge geschlagen hatte, feierten sie einen unerwarteten Erfolg. Die Bengals verpassten ihren Liga-Rivalen an jenem Tag einen ordentlichen Dämpfer. Unter den 41 Punkten der Offensive waren drei Touchdown-Pässe von Burrow, und die Defensive sackte Ravens-Quarterback Lamar Jackson fünfmal. Dennoch verloren sie eine Woche später, an Halloween, gegen die Jets, eine der schlechtesten Mannschaften, die der Football derzeit zu bieten hat und die noch dazu ihren Ersatz-Quarterback Mike White im Einsatz hatte. Wieder eine Woche später unterlagen sie mit 25 Punkten Differenz den Browns.

Und so ging es die gesamte Season lang weiter: Die Bengals schwankten beständig irgendwo zwischen genial und unterirdisch. Dennoch, sagt Burrow, hätte die ganze Zeit über eine Verheißung mitgeschwungen, Tag für Tag, Woche für Woche, in den kleinen Augenblicken, die man als Außenstehender nicht zu sehen bekommt. Mahlzeiten. Meetings. Ein Zwinkern hier, ein Nicken da. Wenn Coach Zac Taylor abends nach Hause kam, erzählte er seiner Frau Sarah von all den kleinen Insiderwitzen, die sich in der Umkleide entwickelten. 

Vielleicht lag es daran, wie der erfahrene Tight End C. J. Uzomah tagtäglich mit der Absicht zum Training erschien, sich mit Receiver Ja’Marr Chase anzulegen. Während ansonsten banaler Trainingseinheiten starrte Uzomah den baldigen Rookie of the Year wortlos finster an. Chase hasst es, angestarrt zu werden. Danach kringelten sie sich vor Lachen. Vielleicht lag es aber auch daran, wie Offensiv-Koordinator Brian Callahan bei ihren wöchentlichen Videoanalysen wahllos irgendwelche peinlichen Aufnahmen von Spielern und Coaches einstreute. Die langweiligen Spielanalysen aufzulockern, ist zwar inzwischen bei vielen Coaches so was wie ein Standardtrick, aber Callahan trieb ihn auf die Spitze. Besonders tief grub er im Fall von Trenton Irwin, indem er herausfand, dass der Receiver als Kind in einer Dosensuppenwerbung zu sehen gewesen war, und den Clip bei einer Analysesession abspielte. "Das Schöne an unserer Mannschaft ist, dass man diese kleinen Momente nach und nach mit allen erlebt", sagt Burrow. "Das sind nicht nur ich und die Receiver oder die Offensive Linemen. Ich glaube, so etwas ist ziemlich selten, und ich bin aufrichtig davon überzeugt, dass wir aus diesem Grund am Ende all diese Spiele gewonnen haben."

Bengals-Quarterback besitzt nahezu vollkommene Wurftechnik

Nach einer Niederlage in der Verlängerung gegen die 49ers am 12. Dezember 2021 gewannen sie drei ihrer letzten Spiele und entschieden damit am Ende die AFC North für sich. Es war der Anfang eines der größten unerwarteten Siegeszüge in der Postseason-Geschichte des American Football. Ein knapper Wildcard-Sieg 26:19 gegen die Raiders. Ein noch knapperer 19:16-Sieg über die Titans in der Divisional Round, bei der noch 20 Sekunden vor Spielende Gleichstand herrschte. Mit einem einzigen Pass brachte Burrow die Bengals in Reichweite für ein Field Goal von Evan McPherson, das ihnen den Sieg brachte. Im AFC-Finale erholten sie sich zwar von ihrem im dritten Viertel von ihrem Elf-Punkte-Defizit zur Halbzeit, gingen mit 24:21 in Führung, ließen dann aber zu, dass die Chiefs im letzten Viertel bei 24 auf Gleichstand stellten, gerade als die Uhr ablief. In der ersten Verlängerung fing Safety Vonn Bell einen Pass von Patrick Mahomes ab und machte den Bengals damit den Weg frei für einen weiteren spielentscheidenden Field Goal Drive. Endstand 27:24

BURROW ETABLIERTE sich als einer der Elite-Quarterbacks der NFL. In Anbetracht seiner Breakout-Season an der LSU schien seine meisterliche Beherrschung des modernen Spiels praktisch aus dem Nichts zu kommen. Doch in Wahrheit war sie immer schon dagewesen. Sie hatte nur darauf gewartet, dass jemand kam und sie ans Licht lockte. 2018, in seinem ersten Jahr als Spieler an der LSU, gelangen ihm nur 16 Touchdown-Pässe. 2019 kam mit Joe Brady ein neuer Koordinator ins Spiel, und Burrow brachte es auf 60 Touchdown-Pässe.

Mit seiner nahezu vollkommenen Wurftechnik erlangt er eine immense Präzision. Sein Release ist schnell – in der vergangenen Season nur 0,19 Sekunden langsamer als der des für seine Entschlussfreude bekannten Tom Brady. Burrow ist durchtrainiert, aber auf eine für seine Position hyperfunktionale Weise, die es ihm ermöglicht, das Spiel ebenso effizient am Leben zu erhalten wie ein wendigerer Quarterback, während er gleichzeitig die optimale Haltung wahrt, um akkurate Pässe zu werfen. "Seine Bewegungen in der Pocket erinnern an Brady", sagt J.T. O’Sullivan, ein NFL-Veteran, der sich inzwischen aus dem Sport zurückgezogen hat und heute für seinen Kanal "The QB School" die Position analysiert.

Tom Brady hätte gerne die Physis von Burrow

"Ich glaube, Brady hätte liebend gern so eine hervorragende Physis wie Burrow, und das ist nicht als Kritik an Brady gemeint. Was mich an Joe so fasziniert: Er bringt nicht nur diese ganzen fantastischen Eigenschaften mit, sondern scheint sich auch rundum wohl damit zu fühlen, er selbst zu sein. Und damit kann man es sehr weit bringen."

Burrows Rookie-Jahr 2020 endete schon im November mit einer schlimmen Knieverletzung. Die Bengals hatten zu diesem Zeitpunkt eine Bilanz von 2-7-1. Burrow zu schützen, blieb auch 2021 noch Thema, da er während der regulären Season und der Postseason insgesamt 70-mal gesackt wurde – kein Quarterback musste je innerhalb einer Saison mehr als 76 Sacks einstecken. Aber dass Receiver Ja’Marr Chase, sein alter LSU-Teamkollege, zum Team stieß, beförderte die Offensive auf ein vollkommen neues Level.

In der Umkleide hielt sich Burrow mit großen Ansprachen eher zurück. Er sagt, er selbst sei auch niemand, der andere um Rat bittet. Sein Vater Jimmy, ein langjähriger Divison-I-Coach, schickt Burrow vor jedem Spiel per Textnachricht Hinweise, erhält aber nie eine Antwort. Eine von Burrows wohl eindrücklichsten Botschaften an die Mannschaft während der gesamten Season lautete, besser nicht den Kampfruf zu adaptieren, der sich im Lauf ihres Siegeszugs unter den Bengals-Fans verbreitet hatte: "Why not us?" – "Wieso nicht wir?" Burrow fand, der Spruch ließe zu sehr an einen Underdog denken, an eine Mannschaft von geringem Wert. Und so sah er die Bengals nicht.

Burrow und Bengals-Coach Taylor sind Freunde

WÄHREND IHRES TRIUMPHZUGS in der Postseason erlangten die Bengals in der Stadt ganz neue Berühmtheit. Sie wurden als Erlöser gefeiert. Ihr Kicker war auf Reklametafeln für einen regionalen Wetterdienst zu sehen, der mit dem Slogan "SO PRÄZISE WIE EVAN MCPHERSON" warb. Nach jedem Sieg fluteten Videomontagen von heulenden Männern, die mit brennenden Zigarren im Mund in halb gefrorene Seen sprangen, die sozialen Medien und die Lokalnews. Haucht man dem Football in einer ausgehungerten Gegend wie Cincinnati neues Leben ein, geht damit ein ganz spezieller Druck einher. Das hier war größer als sie alle zusammen. Außer Kontrolle. Eine Wand aus Feuerwerk und Flammen, aus Krach und Licht.

Burrows Mannschaftskollegen richteten den Blick auf ihren Quarterback, um sich zu orientieren. Und was sie sahen, war ein Mann, der sich in sich selbst zurückzog. In seine Mannschaft. In sein kleines Netzwerk. Und so tat die Mannschaft dasselbe. Die Spieler zogen sich in ihre Einheit, ihr Team, zurück, in die kleinen Dinge, die sie miteinander verbanden. Die der Grund dafür waren, dass sie gern zur Arbeit gingen.

Joe Burrow
Lichtgestalt in Cincinnati: Joe Burrow gab den Bengals ihren Biss zurück
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Aufgrund der Pandemie konnten Taylors Kinder Burrow erst im Januar 2022 kennenlernen, nach dem Titans-Spiel und über ein Jahr nachdem er gedraftet worden war. Burrow und Taylor betrachten einander in erster Linie als Freunde. Coach Taylor ermöglicht es seinem Quarterback, er selbst zu bleiben. Einerseits, indem er Spielzüge erstellt, mit denen sich Burrow wohlfühlt. Andererseits, indem er nie versucht, Burrow als Mensch zu mikromanagen. Auf diese Weise halten sie sich gegenseitig im Gleichgewicht. So wie sie beide extrem darauf achten, sich ihre stabilisierenden Stützpfeiler außerhalb der Welt des Footballs zu bewahren, bieten sie einander diese Möglichkeit zum Luftholen innerhalb dieser Welt.

Auch Taylor hielt an seinen persönlichen Ritualen fest, beispielsweise an den nachmittäglichen Besuchen von seiner Familie, die jeden Dienstag, Mittwoch und Donnerstag stattfinden. Sarah stopft die vier Kinder dann in den SUV und fährt mit zwei supergroßen Kaffeebechern von Starbucks zum Büro. Dort sitzen sie alle zusammen und reden einfach. Sobald die Kinder schlafen, schauen sie alte Folgen "New Girl". Die Serie hilft Zac beim Abschalten und Entspannen. Laut Sarah hat er jede einzelne Folge mindestens hundertmal gesehen.

Burrow: "Das hier ist der schlimmste Tag meines Lebens"

Sarah weiß noch, wie sie am Morgen, nachdem Cincinnati sich seine Reise zum Super Bowl verdient hatte, erwachte und ein Hagel an Textnachrichten von Leuten, die sich gerade auf dem Schulparkplatz befanden, auf sie einprasselte. Bringt Zac gerade ernsthaft persönlich die Kinder zur Schule? Er war um zwei Uhr nachts nach Hause gekommen und hatte direkt einen Berg an Glückwünschen beantwortet. Sarah bekam nicht mehr mit, wie er zu Bett ging. Und dann war er um sechs schon wieder weg, um die Kinder zur Schule zu bringen. "Dass man mal ein paar Stunden weg ist, sagt nichts darüber aus, ob man in dieser Woche gewinnt oder verliert", sagt Taylor. "Aber es spielt eine große Rolle für die Kinder, und es spielt eine große Rolle für einen selbst. Man muss immer dafür sorgen, dass der emotionale Akku voll ist."

Selbst Mike Brown, der brummige, eigenbrötlerische Besitzer des Teams, spürte den Sog der Flutwelle, die durch den plötzlichen Erfolg über sie hereinbrach. Nach dem Sieg im Spiel um den AFC-Titel in Kansas City saß der damals 86-Jährige wie betäubt vorn im Mannschaftsbus. Endlich war es so weit, es passierte wirklich.Brown war zufällig über einen Quarterback aus Ohio gestolpert, der in die Geschichte eingehen würde – und der die bislang vergebliche Plackerei der Bengals als persönliche Herausforderung verstand. Er hatte einen Coach angeheuert, dessen Frau mit einer Begeisterung über Cincinnati sprach, mit der normalerweise Urlauber von Hawaii schwärmen.

ALS BURROW IM letzten Jahr an der Athens Highschool war, verlor sein Team die State Championship 52:56. An jenem Tag im Jahr 2015 erklärte er gegenüber der Tageszeitung "Plain Dealer" aus Cleveland: "Das hier ist der schlimmste Tag meines Lebens. Viel mehr gibt es da nicht zu sagen."

"Ich weiß noch, wie Joe nach dem Spiel zu mir sagte: ‚Ich hab mich noch nie so furchtbar gefühlt.‘ Und ich muss gestehen, dass ich eigentlich derselben Meinung war", erinnert sich Burrows Highschool-Coach Nathan White. "Weil es nun mal das Schlimmstmögliche ist, was man in der Situation fühlen kann."

Burrow: "Man wächst und reift und begreift"

Vor dem Super Bowl LVI widmete sich Burrow exzessivem Bingewatching der NFL-Network-Serie "A Football Life". Eine Folge, die über Hall-of-Fame-Quarterback Kurt Warner, blieb ihm dabei besonders im Gedächtnis. Warner, ein Freund der Familie, der für die Iowa Barnstormers in der Arena Football League spielte als Burrows Vater Defensiv-Koordinator der Mannschaft war, sagte, er würde kaum etwas im Leben mehr bereuen, als dass er die Niederlage der Rams im Super Bowl gegen New England nicht mehr gefeiert hätte. Es habe so viel Gutes gegeben, das sie bis zu diesem Punkt gebracht hatte. Warum also in der Ecke sitzen?

Joe Burrow von den Cincinnati Bengals
Joe Burrow von den Cincinnati Bengals
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Und so gab Burrow am 13. Februar 2022, nur wenige Minuten nachdem Aaron Donald ihn im entscheidenden Play des Super Bowl herumgerissen hatte, sodass sein Pass auf dem Boden landete, eine der wichtigsten Philosophien preis, die er in der Askese entwickelt hatte. "Es ist nicht so gelaufen, wie wir wollten, aber ich finde, dass wir trotzdem was zu feiern haben", sagte er.

Auf der Afterparty der Bengals tanzte Burrow (wenn auch etwas unbeholfen) auf der Bühne mit Rapper Kid Cudi, einem seiner Lieblingsmusiker. Als er nach Hause kam, beschloss er, eine Weile keinen Football anzurühren. Er gewann Distanz zum Spiel und nahm sich die Zeit, eine Erkenntnis zu festigen: Was im vergangenen Winter passiert war, war kein trauriges Lied, das in seinem Kopf in Dauerschleife lief. Es war fantastisch.

"Man wächst und reift und begreift, dass wir manche Spiele eben einfach verlieren und hin und wieder nun mal einen schlechten Tag haben", sagt er. "Und diesmal handelte es sich bei dem Spiel eben um den Super Bowl ... Man muss lernen, wie man gewinnt. Man muss aber genauso lernen, wie man verliert. Man muss lernen, Niederlagen einzustecken und weiterzuma­chen." Für die Bengals sollte die Widerstandskraft, die sich aus dieser Erkenntnis speist, die Saison 2022/23 definieren.

DREI ... ZWEI ... EINS ... FFFFFFFFFFFFFTTTTTT!
DREI ... ZWEI ... EINS ... FFFFFFFFFTTTT!
DREI ... ZWEI ... EINS ... FFFFFFFFFFFFFTTTTTT!

Noch ein paar Minuten, dann ist Burrows Zeit im Dschungel vorbei. Wenn seine momentane Stimmung ein Indikator ist, dann werden wir ihn Winter um Winter bedeutungsvollen Football spielen sehen. Noch ein Versuch, den Super Bowl zu gewinnen? Wieso eigentlich nicht? Die Hitze und die Lichter werden bleiben. Das hat Burrow begriffen. Und so wird er sich dem großen Ziel Super Bowl immer wieder systematisch annähern und wieder Distanz zu ihm gewinnen. Denn er hat noch etwas begriffen: dass dieses Ziel zugleich eine Fallgrube ist. Fragt man ihn, ob sich all das wohl jemals normal anfühlen wird, zögert er nicht mal einen Sekundenbruchteil. "Im Leben nicht."

 

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