Fußball

Bayern-Trainer Julian Nagelsmann: "Jede Chance im Leben hat ein Verfallsdatum"

Julian Nagelsmanns erste Saison als Trainer des FC Bayern Münchner geht in die entscheidende Phase. Er soll den Rekordmeister in eine neue Ära führen – mit 34 Jahren. Wie er mit dieser Herausforderung umgeht, hat er uns Ende letzten Jahres im Interview verraten.

Julian Nagelsmann mit Tipp-Kick
Credit: Chris Rinke
Sports Illustrated 01/22
Magazin
Sports Illustrated 01/22
Magazin

Inhalt

 

Kick Off

24 HOW IT STARTED 
Timo Werner über seine Fußball-Anfänge

 

26 SO MACHT MAN DAS 
Martin Schmitt erklärt uns, wie der perfekte Skisprung gelingt 

 

27 VIER FRAGEN AN ... 
Handball-Nationalspieler Timo Kastening 

 

28 ZAHLEN, BITTE! 
Facts zur Formel 1 

 

29 TROPHY-CHECK
Die Kunstkritik zur Vince Lombardi Trophy 

 

30 SHOPPING
Dinge, die wir mögen – zum Verschenken oder Behalten 

 

32 KULTUR
Sport auf allen Kanälen: Die neuen Filme, Bücher und Serien 

 

34 ESSENTIALS 
Weitsprung-Olympiasiegerin Malaika Mihambo öffnet für uns ihre Sporttasche 

 

35 HISTORY
Ein Football-Helm, der Geschichte schrieb 

 

36 FACES TO WATCH 
Boxer Ammar Riad Abduljabbar, Fußballer Nicolas Seiwald, Fußballerin Nicole Billa 

 

39 AUFSCHNITT 
Der Baseball unter dem Skalpell 

 

40 RANKING
Die Yankees-Cap kennt (und hat) jeder. Diese fünf nicht! 

 

42 FRAGE AN DEN TRAINER
Manuel Baum weiß, wann Fußballvereine ihre Spieler am besten verkaufen sollten 

 

44 KOLUMNE 
Patrick Esume über die Hot Week vor dem Superbowl 

 

46 KOLUMNE
Andrea Petkovic über das Älterwerden als Sportlerin 

 

48 KOLUMNE
Jürgen Schmieder über seine Liebe zu den Clubs aus Los Angeles 
 


Storys

52 COVERSTORY: JULIAN NAGELSMANN 
Der Trainer soll den FC Bayern München in eine neue Ära führen. Wie das klappen kann, verrät er uns im Interview. Zudem erläutert ein Experte die Nagelsmann-Taktik 

 

64 CRISTIANO RONALDO
Der Superstar von Manchester United ist wertvoll für seinen Club – als Fußballer genauso wie als mächtigster Influencer der Welt 

 

70 ROGER FEDERER 
Der Tennis-König kämpft um eine letzte Rückkehr auf den Court. Klappt das? 

 

78 DIE QUARTERBACK- EVOLUTION
Spieler wie Aaron Rodgers und Patrick Mahomes haben das Quarterback-Spiel auf ein neues Level gehoben. Eine Analyse 

 

88 SEBASTIAN VOLLMER
Der ehemalige Patriots-Profi spricht im Interview über die NFL-Games in Deutschland 

 

90 LUKA DONCIC 
Wie der neue Coach Jason Kidd den Mavericks-Star noch besser machen will 

 

96 OLYMPIA
Drei deutsche Snowboard-Hoffnungen im Porträt. Plus: Felix Neureuther über Klima, Spiele in China und die Zukunft des Sports 

 

104 LEON DRAISAITL 
Der deutsche NHL- Superstar spricht mit uns über Wayne Gretzky, Olympia und den Traum vom Stanley Cup 

 

110 ABER SICHER?
Ob man besser eine Maske tragen sollte (oder nicht), war auch im Sport ein lange umstrittenes Thema 

 

116 SI LEGENDS: MICHAEL JORDAN
Vor 30 Jahren kürte ihn Sports Illustrated zum „Sportsman of the Year“ – ein Rückblick 

 

124 WIR WOLLEN DOCH NUR SPIELEN 
Jede Sportkarriere – auch unsere – endet irgendwann. Wie können wir das Ende möglichst lange hinauszögern? Unser Autor macht sich auf die Suche 
 

  • Julian Nagelsmann vom FC Bayern im Interview
  • Bayern-Trainer Nagelsmann will neue Ära prägen
  • Julian Nagelsmann: "Dieses Gefühl, Spiele zu gewinnen, macht süchtig"

Sports Illustrated: Herr Nagelsmann, wo sehen Sie sich in fünf Jahren?

Julian Nagelsmann: Ich hoffe noch bei Bayern. Ich will nicht Profi-Trainer sein, bis ich 70 bin. Aber in fünf Jahren habe ich das schon noch vor. Idealerweise bei Bayern. 

Sports Illustrated: Das würde ja bedeuten, dass Sie Ihren Vertrag als Trainer des FC Bayern München – der aktuell bis Sommer 2026 läuft – verlängern.

Nagelsmann: Das wäre nicht schlecht, das würde ich unterschreiben.

Sports Illustrated: Seit Sommer sind Sie in München. Was hat Sie zu Beginn am meisten überrascht?

Nagelsmann: Wie schnell ich in Club, Mannschaft und Staff integriert wurde. Das kannte ich in dieser Art nur aus Hoffenheim, wo ich ja aber auch groß geworden bin.

"DAS WICHTIGSTE IST EMPATHIE, DASS MAN
MIT MENSCHEN GUT UMGEHEN UND VOR EINER GRUPPE SPRECHEN KANN"

 

Sports Illustrated: Wenn man mit 33 Jahren Bayern-Trainer wird, braucht man neben Talent und Fleiß sicher auch Glück. Was ist am wichtigsten?

Nagelsmann: Das Wichtigste ist Empathie, dass man mit Menschen gut umgehen und vor einer Gruppe sprechen kann. Dazu gewisse Soft Skills, die es bei so einem Weltverein braucht, schließlich gibt es bei Bayern genügend Charakterköpfe, die wichtige Positionen im Verein besetzen, zu denen musst du einen guten Draht haben. Und du benötigst eine Spielidee, die du vermitteln willst.

Sports Illustrated: Empathie und der Umgang mit Menschen: Lässt sich das erlernen?

Nagelsmann: Gewisse rhetorische Fähigkeiten kann man erlernen, aber es gibt Dinge, die müssen einem in die Wiege gelegt sein, um in der Lage zu sein, eine Führungsposition zu übernehmen. Einen Indikator gibt es für mich zum Beispiel bereits während der Schulzeit: Wenn jemand vor der Gruppe ein Referat hält, kannst du schon ablesen, ob das jemand ist, der irgendwann das Zeug für eine Führungsposition haben wird – oder jemand, der zwar einen super Job machen kann, aber vielleicht in einer anderen Position.

Julian Nagelsmann: "Ich strebe als Trainer nach Perfektion"

Sports Illustrated: Mit Ihrer Ankunft in München ist der Wunsch verknüpft, dass Sie eine Ära prägen. Wie sehr spüren Sie den Druck?

Nagelsmann: Entscheidend ist, dass der Anspruch, den man selbst hat, und der, den der Verein hat, zusammenpassen. Ich strebe als Trainer nach Perfektion, bin selten zufrieden. Das ist auch die Antriebsfeder des FC Bayern, eines Vereins, der in der Vergangenheit sehr viel gewonnen hat: immer besser zu werden. Mir ist es natürlich lieber, eine Ära zu prägen, als nach einem Jahr entlassen zu werden. Der Unterschied zu anderen Clubs ist, dass Gewinnen allein bei Bayern nicht reicht. Das ist etwas, woran du dich gewöhnen musst: dass das Spiel eine gewisse Attraktivität besitzt und du mit Souveränität gewinnst.

Julian Nagelsmann Sports Illustrated Cover
Attraktiv und souverän: so präsentierte sich Julian Nagelsmann Ende letzten Jahres beim Covershooting für die erste Ausgabe von Sports Illustrated Deutschland
Credit: Chris Rinke
x/x

Sports Illustrated: Der FC Bayern hat für Sie im Sommer über 20 Millionen Euro Ablöse an Leipzig bezahlt. Das macht Sie zum teuersten Trainer der Welt. Sie haben im Gegenzug bei der Vertragsunterschrift auf einen Teil Ihres zuvor ausgehandelten Gehalts verzichtet. Fiel das schwer?

Nagelsmann: Das Wichtigste für mich ist, dass ich nicht anfange zu vergleichen. Das führt – egal, in welchen finanziellen Sphären – zu Unzufriedenheit. Ich kenne die andere Seite und habe als Spieler auch mal 700 Euro verdient, als Trainer eine ganze Zeit lang 2600 Euro brutto pro Monat – in Vollzeit, wohlgemerkt. Ich weiß ganz genau, wie das ist. Meine Frage an mich selbst bei allen Verträgen war immer: Bin ich mit dem zufrieden, was ich bekomme, und ist es angemessen für das, was ich tue? Und wenn ich dafür auf ein paar Prozentpunkte meines Gehalts verzichte, bin ich aufgrund des Gesamtpakets trotzdem zufrieden. Ich rate auch jedem Spieler, nicht zu vergleichen, denn am Ende geht es auf diesem Niveau nicht um die Frage, ob ich mir von meinem Gehalt etwas zu essen kaufen kann, sondern um eine Zufriedenheit mit dem, was man bekommt.

Julian Nagelsmann: "Ich bin genau derselbe Typ wie in Leipzig"

Sports Illustrated: Sie trainieren jetzt Spieler wie Manuel Neuer, Robert Lewandowski, Thomas Müller – Legenden des Vereins, die von der Weltmeisterschaft bis zur Champions League alles gewonnen haben. Brauchen solche erfahrenen Spieler, die teilweise älter sind als Sie, eine andere Ansprache? Oder sind Sie Ihren Spielern gegenüber immer noch eher der Kumpeltyp?

Nagelsmann: Ich bin immer noch genau derselbe Typ wie in Leipzig. Du kannst den Job auch gar nicht machen, wenn du dich für ihn verstellen musst. Wenn du eine Rolle spielen würdest, gäbe es zu viele Momente, ertappt zu werden. Ich verbringe eine Menge Zeit mit den Spielern, auch in eher privaten Momenten, in denen es nicht immer nur um Fußball geht: Fahrten ins Hotel, Abendessen, wenn wir abends zusammensitzen und ein Spiel anschauen.

Sports Illustrated: Und auf sportlicher Ebene?

Nagelsmann: Da ist es so, dass diese Spieler nicht immer jedes winzige Detail wissen müssen, weil sie eine Einzelspieler-Qualität haben, die in sehr vielen Fällen ausreicht, um ein Spiel zu gewinnen. Unser gemeinsamer Anspruch ist es aber, dass wir uns auf diese Qualitäten allein nicht verlassen, weil die Spieler auch eine Struktur, eine taktische Idee und einen Matchplan wollen. Immer in dem Bewusstsein, dass sie in gewissen Momenten selbst entscheiden müssen und dürfen. Gerade wenn K.-o.- Spiele in der Champions League anstehen und es darum geht, dass man in seinem Kopf eine gewisse Stabilität hat, um Entscheidungen zu treffen. Sie haben immer ein Konstrukt, auf das sie zurückgreifen können, wenn sie mal einen schlechten Tag haben. Aber wenn eine Flanke kommt und Lewandowski den Ball aus dem dritten Stock mit dem Kopf reinhaut, ist das nichts, was ich auf den Matchplan schreibe. Das kann er halt einfach.

Julian Nagelsmann während des Fotoshootings mit Sports Illustrated
Zum Stichwort "das kann er halt einfach": Auch Julian Nagelsmann machte während des Fotoshootings mit Sports Illustrated eine gute Figur am Ball
Credit: Chris Rinke
x/x

Sports Illustrated: Ihr Vertrag läuft wie gesagt bis 2026. Wie weit planen Sie in die Zukunft?

Nagelsmann: Du bist als Trainer sehr gefangen in deinem Alltag, weil alle drei Tage ein Spiel ist, dazu die Termine drumherum. Sowieso ist das Geschäft sehr schnelllebig, deshalb habe ich keine extrem detaillierten Zukunftsplanungen. Natürlich habe ich meinen Lebensweg skizziert: was ich machen will und wo ich hinwill. Ich bin keiner, der abends ins Bett geht, morgens aufwacht und erst dann schaut, was er tut. Ich mag Klarheit, bin aber flexibel, Planungen bei Bedarf anzupassen und umzuschmeißen.

Sports Illustrated: Der FC Bayern lebt auch von langen Traditionen und dem großen Erbe, den vielen Ikonen des Vereins. Sie dagegen stehen für die Moderne, die Zukunft des Spiels. Ein Gegensatz?

Nagelsmann: Es war interessant zu sehen, wie die Leute im Club mich aufnehmen, wie sie mit meiner Art klarkommen. Ich bin als Trainer sicher komplett anders als etwa Jupp Heynckes. Das liegt aber auch daran, dass Jupp Heynckes deutlich älter ist als ich und andere Interessen hat. Es ist ja ganz normal, dass ich als 34-Jähriger einen Bewegungsdrang habe, nach dem Training auf das Tor bolze oder auch mal Skateboard fahre, wenn mir danach ist. Der Club war, was mir von Beginn an geholfen hat, sehr bereit für eine gewisse Luftveränderung. Mit Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß sind zwei prägende Figuren ausgeschieden. Mit Herbert Hainer kam jemand dazu, der Adidas zu einem der größten Sportartikelhersteller der Welt gemacht hat. Oliver Kahn als neuer CEO steht für eine ganz neue Generation. Da findet im Club ein kompletter Wandel statt. Nach wie vor ist die familiäre Stimmung bei Bayern aber eine der großen Stärken des Clubs, und ich möchte diese mitprägen.

Sports Illustrated: Was nehmen Sie aus dem Umgang mit solchen Persönlichkeiten wie Kahn oder Rummenigge mit? Dür­fen die Ihnen auch mal reinreden? 

Nagelsmann: Sie dürfen mir natürlich ihre Meinung sagen, aber ich möchte mir inhaltlich nicht in die taktische Idee oder Aufstellung reinreden lassen. Das würde ich bei wirtschaftspolitischen Themen, die Oliver Kahn entscheidet, ja auch nicht. Es ist gut, dass die Claims ganz klar abgesteckt sind. Ich habe es nicht so gern, wenn 70 Köche versuchen, am Brei herumzudoktern. Ich suche aber häufig den Austausch, bin jeden Tag auf der Geschäftsstelle. Doch es ist nicht so, dass Persönlichkeiten wie zum Beispiel Oliver Kahn, Karl-Heinz Rummenigge oder Uli Hoeneß extrem dominant sind. Sie sind sehr unterstützend und vertrauensvoll.

Sports Illustrated: Wie äußert sich das?

Nagelsmann: Uli Hoeneß hat während meiner Corona-Erkrankung jeden Tag angerufen und gefragt, wie es mir geht. Mit Oliver Kahn diskutiere ich über die ein oder andere Szene aus torwartspezifischer Sicht, weil er da Erfahrung hat, aber es ist nicht so, dass er anruft und sagt: Komm mal rüber, wir müssen die taktische Idee besprechen, das gefällt mir so nicht. Es kann sein, dass es irgendwann so kommt – aber ich hoffe es nicht.

Sports Illustrated: Wo sehen Sie bei sich als Trainer noch Entwicklungspotenzial?

Nagelsmann: Dass ich mehr Gespräche führe mit einzelnen Spielern, das mache ich aktuell manchmal einen Tick zu wenig. Ich bin grundsätzlich ein sehr offener und kommunikativer Typ, der ein gutes Verhältnis zu seinen Spielern pflegt und sehr nahbar ist. Ich bin kein Trainer – auch die gibt es im Top-Fußball –, der sich einsperrt und außerhalb des Trainings nichts mit den Spielern zu tun hat. Aber es kann noch ein bisschen mehr sein, gerade im Einzelnen.

"ICH WEISS NICHT, OB ES IM LEBEN IMMER ZWINGEND STEIGERUNGEN GEBEN MUSS"

Sports Illustrated: Wenn man mit Mitte 30 schon diesen Traumjob hat: Was soll da eigentlich noch kommen? Geht es überhaupt noch besser?

Nagelsmann: Ich habe das Glück, dass ich in der Nähe von München groß geworden bin und wir in dieser Region einen Fußball-Weltverein haben. Wenn das dann damit zusammenkommt, dass du in meinem Alter – oder überhaupt – diesen Club trainieren darfst, ist das schon ein Traumjob. Aktuell glaube ich nicht, dass es mit allen Umständen – der Schönheit der Stadt, der Region, der Nähe zu den Bergen – eine extreme Steigerung gibt. Ich weiß aber auch nicht, ob es im Leben immer Steigerungen geben muss. Es gibt andere Kulturen, die man mal kennenlernen kann, aber ich bin immer noch jung. Ich habe genügend Dinge in meinem Leben, die bisher sehr zurückstehen mussten, die ich wenig ausleben konnte. Ich will nicht mit 45 gar nichts mehr machen.

Sports Illustrated: Sondern?

Nagelsmann: Vielleicht einfach einen anderen Job, der mich ebenfalls begeistert, vielleicht Schreiner, eine Autofirma haben oder bei einer angestellt sein, Mountainbike- oder Skitouren anbieten. Auch da werde ich abends sehr zufrieden ins Bett gehen, ich muss nicht mein gesamtes Leben immer in der Öffentlichkeit stehen.

Julian Nagelsmann: "Das hätte auch in die Hose gehen können"

Sports Illustrated: Sie sind sehr in der Region verwurzelt. Reizt Sie das Ausland?

Nagelsmann: Eine Station im Ausland gehabt zu haben ist für mich nicht die Definition einer gelungenen Karriere. Ich hatte aber nach meinem Studium und meiner Schulzeit nicht die Option wie viele andere, ins Ausland zu gehen, sechs Monate nach Australien oder eine Weltreise zu machen. Das ist sicher eine Erfahrung, die einen als Mensch weiterbringt.

Sports Illustrated: Ging es Ihnen in Ihrer Karriere denn manchmal ein bisschen zu schnell, hätten Sie an der ein oder anderen Stelle gern mehr Zeit gehabt?

Nagelsmann: Das Engagement in Hoffenheim kam schon sehr schnell, der ganze Umstand mit dem zu Beginn fast sicheren Abstieg plus die Fußballlehrer-Ausbildung, das waren einige Monate, in denen ich ganz schön rödeln musste. Das hätte auch in die Hose gehen können. Es behauptet zwar jeder, dass ich auch Bayern-Trainer geworden wäre, wenn wir damals abgestiegen wären. Aber: Gar nix wäre ich. Dann wäre ich heute wahrscheinlich wieder U19-Trainer, was auch okay wäre. Aber kein Bundesliga-Trainer. Zu 100 Prozent nicht. Der Schritt zu Leipzig war perfekt für mich. Es wäre ein Fehler gewesen, nach Hoffenheim – ein Angebot aus dem Ausland hatte ich – schon einen sehr, sehr großen Verein zu übernehmen.

Sports Illustrated: Real Madrid hatte Interesse.

Nagelsmann: Der große Unterschied ist: Wenn du wie ich in Hoffenheim – wo ich Nachwuchstrainer war und jede Waschfrau und jeden Platzwart kannte – die Profi-Mannschaft übernimmst, ist die Anlaufzeit extrem kurz. Weil du genau weißt, wen du ansprechen musst, wenn du Hütchen brauchst. Wenn du am Nachmittag deine Gemüsesuppe willst, gehst du zum Koch, den du schon kennst. Wenn du in einem Verein erst mal alle kennenlernen musst, ist das eine andere Dimension. Deshalb war es richtig, dass ich in ein höheres Regal greife als Hoffenheim, aber nicht gleich das höchste, das vielleicht möglich gewesen wäre. Der Schritt zu Leipzig war extrem gesund, und es wäre kein Fehler gewesen, das ein drittes oder viertes Jahr zu machen.

Von der Grünwalder an die Säbener Straße: Die Karriere des Julian Nagelsmann

Von seinem Heimatverein FC Issing wechselt Julian Nagelsmann erst in die Jugendabteilung des FC Augsburg, dann zu 1860 (im Bild gegen Bayerns Sandro Wagner), wo er verletzungsbedingt mit 20 seine aktive Karriere beendet
Credit: Imago
x/x
Erste Trainerstationen: Beim FCA-Jugendteam wird er 2008 Co-Trainer, dann wieder zu 1860 – ebenfalls als Co-Trainer der Nachwuchsmannschaft
Credit: Augenklick
x/x
2010 verpflichtet ihn Hoffenheim als U17-Co-Trainer, er steigt im Verein auf. Ab 2016 Coach der Profis
Credit: Getty Images
x/x
2019: Wechsel zu RB Leipzig
Credit: Getty Images
x/x
Ab der Saison 2021/22 ist er Trainer des FC Bayern München
Credit: Getty Images
x/x

Sports Illustrated: Trotzdem haben Sie sich für Bayern ent­schieden.

Nagelsmann: Jede Chance im Leben hat ein Verfallsdatum. Egal, ob im Fußball oder in der freien Wirtschaft. Es heißt immer, alle Chancen im Leben kommen zwei- oder dreimal, aber ich bin da anderer Meinung. Ich habe zu oft in meiner Fußballkarriere erlebt, dass Chancen eben nicht noch mal kommen. Sie kommen einmal, und dann musst du zupacken. Deshalb war es richtig, nach zwei Jahren zu Bayern zu wechseln.

Sports Illustrated: Wie sehen Sie die Entwicklung des Fuß­balls, des Spiels?

Nagelsmann: Nicht nur positiv, weil es zu viele Partien gibt, die Belastung extrem hoch ist und die Pausen sehr kurz sind. Da leidet die Fitness und irgendwann die Spielqualität. Medien und Öffentlichkeit schauen sehr, sehr kritisch auf den Fußball. Das trägt dazu bei, dass es im Spiel sehr viel um Vermeidung geht.

Julian Nagelsmann: "Wenn du Dinge riskierst, musst du ein dickes Fell haben"

Sports Illustrated: Woran genau liegt das?

Nagelsmann: Wenn du Dinge riskierst, musst du schon ein dickes Fell haben. Wenn du das nicht abkannst, geht es – und das ist in allen Ligen mittlerweile so – eher um Fehlervermeidung, um Stabilität und Disziplin, aber weniger um dieses kindliche Fußballspielen, um Begeisterung, zu der auch mal Fehler gehören. Dass man mal etwas ausprobiert, das vielleicht nicht funktioniert. Kein Mensch geht auf den Bolzplatz und sagt: Heute spielen wir mal zu null. Am Ende muss der Fußball entertainen. Der Fan auf der Tribüne muss sagen: Das war genauso geil wie das Coldplay-Konzert. Wenn du heimgehst, nachdem du 45 Euro für ein Ticket gezahlt, zwei Torschüsse und ein 0 : 0 gesehen hast, wird in Zukunft der Fußball nicht mehr sein, wie er heute ist.

Julian Nagelsmann während des Fotoshootings mit Sports Illustrated
Julian Nagelsmann, der Heilsbringer, der den deutschen Fußball in eine glorreiche Zukunft führt? Vielleicht. Sicher ist: Der Bayer steht nicht auf Defensivschlachten, er lässt entertainenden Fußball spielen, "genauso geil wie das Coldplay-Konzert"
Credit: Chris Rinke
x/x

Sports Illustrated: Also sollte die Zahl der Spiele reduziert werden?

Nagelsmann: Das wäre zum Schutz der Spieler sinnvoll. Außerdem: Jedes Gut, das es nicht an jeder Ecke gibt, besitzt eine gewisse Faszination. Die Faszination, die der Fußball ausübt, bewegt extrem viele Menschen. Die generieren einen entsprechenden finanziellen Background für den Sport. Je mehr Spiele aber stattfinden, desto weniger hoch wird die Qualität sein, desto weniger Leute schauen sich das an, dann ändern sich die Fernsehverträge und das gesamte Bild des Sports. Man muss an dem Produkt Fußball nicht immer herumdoktern. Die Champions League ist sehr spannend, ein toller Wettbewerb. Genauso wie die Bundesliga.

Sports Illustrated: In der Liga könnte Bayern die zehnte Meisterschaft in Folge holen, in den vergangenen Jahren war der Meisterkampf oft nicht sehr spannend.

Nagelsmann: Es gibt auch andere Dinge als den Meisterkampf in der Bundesliga. Wenn du Fan von Köln oder Bielefeld bist, gehst du nicht ran und sagst: Wir werden Meister. Dann willst du begeisternde Spiele sehen. Man darf die Attraktivität der Liga nicht nur darüber definieren, ob Bayern München oder ein anderes Team Meister werden kann oder nicht. Das ist ein völliger Trugschluss.

Julian Nagelsmann: "Es gibt Dinge, die viel bedeutender sind"

Sports Illustrated: Gleichzeitig rüsten international Clubs wie Manchester City oder Paris, unterstützt von Staaten, massiv auf. Hat die Liga auf europäischer Ebene künftig noch Chancen?

Nagelsmann: Wir müssen in Deutschland – unabhängig von Bayern – kreativer sein als die anderen Vereine. Wir haben andere finanzielle Voraussetzungen, und das wird auch in Zukunft so sein. Nicht nur was Fernsehgelder angeht, sondern auch bezüglich der unterschiedlichen Steuerlasten und anderer Regularien im Vergleich zu England, Spanien oder Frankreich. Wenn alles bleibt, wie es ist, werden wir irgendwann wenig Chancen haben in der Champions League. Wenn einmal die 50+1-Regel kippt, kann es sein, dass das anders ist. Und wenn 50+1 bestehen bleibt, gibt es trotzdem Möglichkeiten, aber es wird schwerer als vor zehn Jahren sein, die Champions League zu gewinnen.

Sports Illustrated: Hat die Corona-Pandemie – und vielleicht auch Ihre eigene Infektion mit dem Virus – Ihre Sicht auf den Fußball verändert, haben Sie dessen Sinnhaftigkeit hinterfragt?

Nagelsmann: Für mich ist das Unterhaltung. Wenn man in diesem Business arbeitet, muss man wissen, dass es nicht die Welt bedeutet. Es gibt Dinge, die viel bedeutender sind für das Weltgeschehen als Fußballspiele. Der Bundesliga-Fußball ist schon eine gewisse Parallelwelt. Das wusste ich vor der Pandemie schon auch, aber sie hat das vielleicht noch etwas deutlicher gemacht.

Sports Illustrated: Weil Sie von Entertainment sprechen: Pressekonferenzen, Fotos, Interviews, das ist alles Teil dieses Betriebs. Der scheint Ihnen aber mehr Spaß zu machen als anderen Trainern.

Nagelsmann: Das tut er auch, und ich versuche, bei Interviews oder Foto-Shootings ein paar Dinge von mir preiszugeben – auch auf die Gefahr hin, dass man dann leichter auszurechnen ist. Aber es macht mir keinen Spaß, in 70 oder mehr Pressekonferenzen pro Jahr immer nur ein Programm runterzuspulen. Die Zeit muss man sowieso investieren. Das ist wie in der Schule. Damals habe ich mir gesagt: Du musst da eh hin, also nutze die Zeit einigermaßen. Es wäre auch extrem schwer, den Job auf diesem Niveau zu machen, wenn dir das gar keinen Spaß macht. Dann wirst du auf die Nase fallen und erzählst Blödsinn, der dir um die Ohren gehauen wird.

Sports Illustrated: Wenn es um Kritik an Ihnen selbst geht: Auf wen hören Sie?

Nagelsmann: Kommt darauf an. Ich hole mir Feedback bei Freunden, die nicht im Fußballbereich tätig sind: wie ich mich gebe, wie ich bin, ob ich mich verändere. Im Profi-Bereich, wo viel Geld und Fame im Spiel sind, versuchen Leute, dich zu beeinflussen, weil sie einen Vorteil für sich daraus ziehen wollen. Deshalb ist der Draht zu Menschen, die ich schon ewig kenne, sehr wichtig, weil die wissen, wie ich früher war.

"WENN ICH MIT KUMPELS ESSEN GEHE, WILL ICH IMMER NOCH DER JULIAN VON FRÜHER SEIN"

Sports Illustrated: Haben Sie sich denn verändert?

Nagelsmann: Nicht tiefgreifend, höre ich. Klar, eine gewisse Veränderung durchlebt jeder Mensch. Und natürlich verändert dich auch das Business in gewissen Bereichen. Ich habe mal vor Jahren etwas zu Silvester gesagt ...

Sports Illustrated: ... dass das ein schwachsinniges Fest sei ...

Nagelsmann: ... da habe ich den Shitstorm des Jahrtausends bekommen. Das war ein Lerneffekt, vielleicht sage ich deshalb nicht mehr zu allen Themen meine Meinung, die ich zwar habe, aber nicht immer kundtun muss. Ansonsten habe ich an mich den Anspruch, der gleiche Typ zu sein, der ich vor fünf oder zehn Jahren war. Wenn ich nicht auf der Trainerbank sitze und mit Kumpels essen gehe, will ich immer noch der Julian von früher sein.

Sports Illustrated: Wie entscheidend sind Rückschläge für die Karriere? Sie haben früh Ihren Vater verloren, mussten verletzungsbedingt Ihren Traum vom Profi aufgeben.

Nagelsmann: Die braucht man nicht zwingend. Es schadet sicher nicht, die negativen Seiten des Lebens oder eines Sports kennenzulernen. Für manches kannst du selbst etwas, für anderes nicht. Als Sportler habe ich Entscheidungen getroffen, die im Nachhinein nicht immer richtig waren, da würde ich heute anders handeln. Es gibt Dinge wie mit meinem Papa, die du nicht beeinflussen kannst, die einfach passieren. Beides kann aber als Antrieb dienen. Mein Vater weiß nicht einmal, dass ich Profi-Trainer bin, er hat die ersten vier Monate als Co-Trainer im Jugendbereich von Sechzig noch mitbekommen, aber er weiß nicht, dass ich dann ziemlich bald Cheftrainer im Jugendbereich wurde und was danach alles kam. Klar, ziehe ich daraus auch Energie. Dass er jetzt irgendwo sitzt und mich beobachtet, glaube ich nicht, aber trotzdem sagst du dir, dass du es beweisen willst. Vielleicht kriegt er es mit, vielleicht nicht.

Sports Illustrated: Was motiviert Sie, jeden Tag aufzustehen, an die Säbener Straße zu fahren, sich dem ganzen Stress, den der Fußball mit sich bringt, auszusetzen?

Nagelsmann: Erfolg. Dieses Gefühl, Spiele zu gewinnen, macht süchtig. Nicht zuletzt ist einfach das Leben meine Motivation. Das Leben macht mir unglaublich viel Spaß. Ich freue mich auf jeden Tag – mit allem, was dazugehört. Das – gepaart mit dem Erfolg im Job – treibt mich an. Ich bin total glücklich mit meinem Leben.

Mehr Sport-News: