Wings for Life World Run

Kristina Vogel: "Es hat keinen Tag gedauert, bis ich mein neues Leben akzeptiert habe"

Kristina Vogel wird beim Wings for Life World Run zusammen mit Sophia Flörsch im Catcher Car sitzen. Die zweifache Bahnrad-Olympiasiegerin spricht im Interview mit Sports Illustrated über ihren Unfall, ihre Querschnittslähmung und den Lauf für den guten Zweck.

Kristina Vogel
Credit: Getty Images
  • Kristina Vogel: "Ich bin glücklich und genieße den Augenblick"
  • Beim Wings for Life World Run zusammen mit Sophia Flörsch im Catcher Car
  • Kristina Vogel ist Vorbild für andere Querschnittsgelähmte

Kristina Vogel verunglückte 2018 bei einem Zusammenstoß auf der Radrennbahn in Cottbus so schwer, dass ihre Überlebenschancen bei 50 Prozent standen. Vier Jahre später strotzt die 31-Jährige vor Selbstbewusstsein und Lebensfreude. Die zweimalige Olympiasiegerin im Bahnradsport ist ein Vorbild für andere Menschen im Rollstuhl. Beim Wings for Life World Run am 8. Mai 2022 sitzt sie im Catcher Car. 

Sports Illustrated: Vor knapp vier Jahren verunglückten Sie schwer. Wie geht es Ihnen im Moment?

Kristina Vogel: Mit geht es gut. Ich bin glücklich und habe einen guten Lebensrhythmus gefunden. Ich bin schmerzfrei und komme gut klar. Bis auf die Probleme mit der Barrierefreiheit für Rollstuhlfahrer ist alles gut.

Sports Illustrated: Welche Erinnerungen haben Sie an den Unfall im Jahr 2018, als Sie auf der Radrennbahn in Cottbus bei voller Geschwindigkeit mit einem anderen Radfahrer kollidierten?

Vogel: Nach meinem Unfall standen die Chancen 50:50, ob ich überlebe oder nicht. Das war schon heftig. Ich muss sagen, dass war der größte Kampf in meinem Leben. Wenn ich vergleiche wie ich für meine zwei Olympiasiege gekämpft habe, war das nichts dagegen. In meinen Träumen habe ich teilweise überlegt, ob ich jetzt loslasse oder nicht. Diese Dimension kann man sich gar nicht vorstellen. Deshalb war es am Anfang nach dem Unfall sehr schwer und hart. Ich war gebrochen. Meine Hüfte und mein Schlüsselbein waren kaputt, meine Lunge war zusammengefallen. Ich war ein richtig gebrochener Vogel. Es hat lange gebraucht, ehe das alles geheilt war. Aber jetzt bin ich happy. Ich habe eine gute Lähmungshöhe, dass ich in meinem Leben relativ gut und selbstständig zurechtkomme. Gardinen aufhängen und Bier aus dem Keller holen, kann ich nicht mehr. Aber dafür habe ich viele tolle Menschen um mich herum, die mir helfen.

Sports Illustrated: Wie froh sind Sie, dass Sie noch leben?

Vogel: Das Leben ist fantastisch. Jeder Mensch will leben. Wenn ich zurückblicke, bin ich sehr stolz, dass ich nach meinem Unfall alles geschafft habe. Ich weiß noch, dass es aber einen Moment gab, als man mir die Diagnose mitteilte, dass ich querschnittsgelähmt bin, der nicht einfach war. Aber ich habe mich der Tatsache gestellt und gekämpft, denn das Leben ist schön und macht Spaß. 

Sports Illustrated: Wie lange hat es gedauert, bis Sie Ihr neues Ich akzeptiert haben?

Vogel: Es hat keinen Tag gedauert, bis ich mein neues Leben akzeptiert habe. Ich bin vielleicht manchmal etwas zu kühl zu mir, denn ich bin ein sehr realistischer und rationaler Mensch. Wer mich aus meiner Karriere als Leistungssportlerin kennt, der könnte meinen, dass ich immer nur der Sonnenschein bin, aber das bin ich nicht immer. Ich habe die Situation nach meinem Unfall so angenommen und mir gesagt, OK das ist jetzt so – jetzt geht alles wieder bei Null los. Es liegt in meinen Händen, was ich aus meinem Schicksal mache. Mir hat diese Herangehensweise damals sehr geholfen.

Sports Illustrated: Wie haben Sie gelernt, mit den Unfallverletzungen umzugehen?

Vogel: Ich habe mich direkt danach gefragt, was bedeutet die Verletzung im Detail für mich. Wenn man aufwacht und ist auf einmal querschnittsgelähmt, hat man überhaupt keine Ahnung, was das bedeutet. Es ist ja nicht nur, dass man nicht mehr laufen kann. Da lerne ich immer noch hinzu. Ich erlebe jeden Tag neue Situationen. Mir hat mal jemand gesagt, dass man nach zehn Jahren alles drauf und erlebt hat. Somit bin ich im Rollstuhl-Business noch im Grundschulalter.

Sports Illustrated: Können Sie auf Mitleid verzichten?

Vogel: Klar, kann man auf Mitleid verzichten. Aber ich verstehe es auch, denn es ist manchmal nicht schlecht. Die Frage ist nur, wie äußert sich Mitleid oder Mitgefühl? Mir muss keiner sagen, wie toll ich das jetzt mache. Ich lebe einfach mein Leben, wie jeder andere auch. Nur, dass man mein Handicap deutlich sieht. Bei anderen sieht man es nicht. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Aber aus Mitgefühl kann sich auch etwas Gutes entwickeln – wie die Wings-for-Life-Stiftung, um Menschen zu helfen. Außerdem geht es um Überlegungen, die Lebensbedingungen für Rollstuhlfahrer verbessern und zum Beispiel Gebäude und Zugänge barrierefrei machen kann. Alle diese Dinge und Überlegungen helfen.

Sports Illustrated: Wie können Sie anderen Rollstuhlfahrern helfen, ihren Alltag zu meistern?

Vogel: Ich bin nach meinem Unfall an die Öffentlichkeit gegangen, weil ich festgestellt habe, dass ich damit etwas bewegen kann. Rollstuhlfahrer gibt es viele, viele Jahre. Aber wie viele Wege und Gebäude sind barrierefrei? Bei Youtube bekommt man für fast alle Dinge im Leben einen Lösungsvorschlag oder Tipps. Wie schlage ich einen Nagel in die Wand? Wie bekomme ich Smokey Eyes hin? Man bekommt tausende Videos. Wenn man nach Rollstuhl-Tipps sucht - wie fliege ich mit dem Flugzeug oder so - dann gibt’s das kaum oder nicht. Darum möchte ich meine Stimme nutzen, um den Menschen im Rollstuhl zu zeigen, wie ich das mache, um ihnen zu helfen.

Kristina Vogel wird mit Sophia Flörsch beim Wings for Life World Run am 8. Mai im Catcher Car sitzen.
Kristina Vogel wird mit Sophia Flörsch beim Wings for Life World Run am 8. Mai im Catcher Car sitzen.
Credit: Wings for Life
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Sports Illustrated: Seit Ihrem Unfall 2018 sitzen Sie im Rollstuhl. Wie sehr fehlt Ihnen der Sport, den Sie früher ausgeübt haben?

Vogel: Ich bin immer noch dabei. Ich bin Trainerin der Bundespolizei-Spitzensport-Fördergruppe. Ich habe die Athleten und Athletinnen bei mir. Ich sitze in der Radsport-Kommission und kommentiere auch. Somit ist der Radsport nicht weit weg. Eigentlich bin ich froh, nicht mehr diesen Leistungsdruck zu haben. Nach meinem Unfall bin ich aus dem Hamsterrad ausgebrochen. Ich habe vor ein paar Jahren mal gesagt, dass ich mich jetzt frei fühle. Vor meinem Unfall hatte ich diesen extremen Druck, Erfolg haben zu müssen. Ich bin über die Ziellinie gefahren und habe gedacht, ich habe es allen bewiesen – anstatt mich zu freuen. Trotzdem war es eine tolle und erfolgreiche Zeit. Aber wenn ich heute zurückblicke, denke ich, ich war total bekloppt. Wenn ich jetzt an der Radrennbahn bin, kribbelt es aber immer noch. Wenn ich dieses Knacken der Holzplanken höre, ist das toll. Ich habe in meiner Sportkarriere sehr viel erreicht. Darauf bin ich stolz. Von daher ist alles gut.

Sports Illustrated: Am 8. Mai findet der Wings for Life World Run statt. Warum ist dieser Lauf so wichtig?

Vogel: Als ich meine Diagnose mit der Querschnittslähmung bekommen habe, dachte ich, das war es jetzt. Laufen ging nicht mehr. Aber es haben sich viele neue Türen geöffnet. Dann gesellt sich zu meinen kühlen, realistischen Einschätzungen der Traum, sich doch wieder zu bewegen. Ich bin schmerzfrei, kann viele Dinge machen und bin mobil. Wenn manche sagen, dass man an den Rollstuhl gefesselt ist, dann ist das falsch. Ich kann rausgehen und der Rollstuhl gibt mir eine gewisse Art der Freiheit. Ich werde weiter daran arbeiten, dass ich meinem Partner irgendwann einmal wieder stehend in die Augen schauen kann. Sicherlich hat die Wings-for-Life-Stiftung viel erreicht, aber wir sind noch lange nicht am Ende.

Sports Illustrated: Sie werden beim Wings for Life World Run neben Sophia Flörsch im Catcher Car sitzen. Wie sehr freuen Sie sich darauf?

Vogel: Ich freue mich riesig darauf, denn Sophia ist eine tolle und liebe Frau. Sie hat in ihrem Leben auch gemerkt, wie knapp es sein kann. Da bekomme ich gerade Gänsehaut, wenn ich an ihren Unfall denke. Aber sie ist eine überragende Rennfahrerin, die sich in der Männerwelt durchgesetzt hat. Aus diesem Grund freue ich mich sehr, mit ihr im Catcher Car zu sitzen. Ich hoffe, dass es eine lange Autofahrt wird und die besten Läufer ganz, ganz weit kommen. Ich denke, Sophia und ich werden im Auto Spaß haben, lachen und singen. Unsere Aufgabe ist es zwar, die Läufer einzufangen, aber wir werden die Teilnehmer auch anfeuern.

Sports Illustrated: Welche Tipps können Sie den Läuferinnen und Läufern geben, damit sie das Catcher Car nicht so schnell einholt?

Vogel: Ich denke, dass jeder seinen Rhythmus finden muss. Kontinuität ist ein wichtiges Schlagwort. Aber das Wichtigste ist der Spaß am Laufen. Wir haben hoffentlich tolles Wetter und alle haben Spaß. Wenn ich an 2019 denke, als ich das erste Mal dabei war, habe ich heute noch Tränen in den Augen, weil es mich emotional sehr bewegt hat, dass so viele Menschen für den guten Zweck laufen. Mir war damals gar nicht bewusst, wie groß Wings for Life ist. Als ich die 10.000 Läufer am Start sah, habe ich Rotz und Wasser geheult, weil mich dieser Moment emotional so ergriffen hat. Da bekomme ich gleich wieder Gänsehaut.

Sports Illustrated: Was ist Ihr größter Wunsch für die Zukunft?

Vogel: Ich möchte einfach glücklich bleiben. Ich genieße den Augenblick – und bin froh, wenn ich früh mit einem Lachen aufstehen und am Abend mit einem Lächeln ins Bett gehen kann. Ich habe meinen Sinn des Lebens gefunden. Das passt.

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