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Kalter, ausdrucksloser Killer: Die zwei Gesichter von Rad-Legende Eddy Merckx

Der Belgier Eddy Merckx ist Anfang der 1970er-Jahre der Superstar des Radsports. US-Autor John Underwood besuchte ihn für Sports Illustrated in seiner Heimat. Er trifft einen Mann, der auf der Strecke der eiskalte Killer ist – und privat ein anderes Gesicht zeigt.

Eddy Merckx
Credit: Getty Images

Eddy Merckx’ Manager räumte einen Teller Mett (auf der Speisekarte angepriesen als "Filet Americain") mit einer Beilage aus Tomaten und Brunnenkresse beiseite. Er hatte diesen tief in den Eingeweiden des Hotelrestaurants gelegenen Tisch bewusst ausgewählt, weil er Privatsphäre bot. Vor dem Gebäude nahe des Genter Hauptbahnhofs bildete sich bereits seit dem Nachmittag eine Menschentraube. Radsportfans bevölkerten die Lobby, saßen im Restaurant zusammen und tränkten die Nachtluft mit dem für den Vorabend eines Rennens typischen Klatsch und Tratsch.

Eddy Merckx: Ein Treffen in Gent

Der Besucherstrom ergoss sich bis auf die Straße hinaus und umfloss die parkenden Fahrzeuge, auf deren Dächern die Fahrräder befestigt waren wie die bunt lackierten Köder an einem Anglerhut. Sie bildeten die einzigen Farbtupfer auf dem regennassen Platz. Gent, ein zerknittertes, graues Relikt von Stadt, kauert sich tief ins belgische Flachland mit seinen endlosen Ebenen, die viele Jahrhunderte lang von Armeen durchquert wurden, die entweder aus Paris kamen oder dorthin unterwegs waren. Gent tanzt nicht – es duckt sich.

Ich, ein Amerikaner, der zusammen mit seinem Übersetzer-Schrägstrich-Chauffeur bei dem Manager am Tisch saß, sagte, in einer anderen Epoche hätte ich vielleicht hier gesessen, um nicht auf Eddy Merckx, sondern auf Karl den Großen oder Napoleon oder Hitler zu warten, die ebenfalls alle hier langgekommen waren.

Eddy Merckx: Der südeuropäische Belgier

"Was?", fragte der Übersetzer. "Pardon? Ich ... Bitte verzeihen Sie, Sir. Es ist das erste Mal, dass ich so dicht mit einem Champion bin." "Dicht?", wiederholte der Amerikaner. "Da." Der Übersetzer deutete mit dem Kopf zu einem Tisch, an dem eine Gruppe junger Männer beim Essen beisammensaß. "Eddy Merckx." "Ach so, Sie meinen nah dran. Sie waren noch nie so nah an einem Champion dran." "Ja, genau." Der Übersetzer-Chauffeur strahlte. Das Objekt seiner Bewunderung saß indessen schweigend inmitten seiner Mitessenden. Er hatte die drahtige Silhouette eines Fechters und wirkte eher südeuropäisch als flämisch: olivfarbene Haut, dickes, schwarzes Haar, das ihm tief in die Stirn hing, Augen mit schweren Lidern.

Eddy Merckx fuhr ab 1971 für das Team Molteni
Eddy Merckx fuhr ab 1971 für das Team Molteni
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SEINE GRUPPE, ein 17-köpfiges Team namens "Molteni", benannt nach dem italienischen Salamipapst, der es sponsert, war von den Vorspeisen zu Schalen voller Gemüse und Fleisch übergegangen und bei bester Laune. Auf dem Tisch standen mehrere Rotweinflaschen. Morgen würden sie sechs Stunden ohne Unterbrechung Fahrrad fahren, und im Augenblick befanden sie sich in der finalen Phase der Treibstoffaufnahme.

Eddy Merckx: Ein Freund des Königs

Hin und wieder blieben Erwachsene und Kinder in respektvollem Abstand stehen, um den sehnigen jungen Mann anzustarren. Ein kleiner Junge trug eine Rennradkappe, auf die unten die Worte Eddy Merckx gestickt waren, darüber befand sich ein Bild des Sportlers. "Er ist ein Idol", sagte der Manager und gestikulierte dabei mit seiner Gabel herum. "So einen wie ihn hat es noch nie gegeben, in der ganzen Radsportgeschichte nicht." "Er hat gejagt mit der König", erklärte der Übersetzer. "Er ist ein Freund von der König. Er hat geschossen den Hirsch."

1970 gewann Eddy Merckx seine erste Tour de France
1970 gewann Eddy Merckx seine erste Tour de France
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Der Manager nickte. Dann erzählte er eine Geschichte, die der Übersetzer übertragen sollte: "Der König hat eins von den Fahrrädern. Es wird ihm geschickt von Eddy Merckx. Eines, das benutzt wurde von Eddy Merckx, als er 1969 gewinnt die Tour de France. 1969 ist er der erste Belgier seit dreißig Jahren, der die Tour de France gewinnt, und er wird eingeladen in den Palast. Er gewinnt wieder 1970 und wieder 1971. Als die Würdenträger und die Fotografen den König besuchen kommen, bringt er sie zu seinem Spezialschrank und zieht auf den Vorhang, und voilà: das Fahrrad! Es ist weiß, mit Name und Bild von Eddy drauf. Das offizielle Eddy-Merckx-Modell. Wir haben einen Vertrag, um 50.000 herzustellen, zum Verkauf in Amerika."

Eddy Merckx zeigt König Baudouin (links) sein Rad, während Claudine mit Königin Fabiola (ganz rechts) spricht.
Eddy Merckx zeigt König Baudouin (links) sein Rad, während Claudine mit Königin Fabiola (ganz rechts) spricht.
Credit: Alamy
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"Am Sonntag", fuhr der Übersetzer mit seiner Geschichte fort, "fährt König Baudouin draußen im Schlossgarten von Laeken herum. Dabei er trägt eins von Eddys Gelben Trikots von der Tour 1969." Der Übersetzer erzählte weiter, der König würde manchmal gewöhnliche Straßenkleidung anziehen, in seinen Mercedes steigen und alleine durch die Gegend fahren. Niemand würde ihn erkennen. "Eddy Merckx könnte das nicht", sagte er. "Es würde einen Mob geben. Die Leute kennen Eddy besser als den König."

"Warum ist es gelb?", fragte der Amerikaner. Seine Zuhörer wirkten verwirrt. "Das Trikot, meine ich." Der Manager schnalzte tadelnd mit der Zunge. Sein Name lautete Jean Van Buggenhout. Vor Langem war auch er Radrennfahrer gewesen, nun war er ein ergrauter und etwas korpulenter Mann. "Das Gelbe Trikot, das maillot jaune, wird vom in der Gesamtwertung führenden Fahrer der Tour getragen, damit man ihn erkennt", sagte er. "Ich merke, Sie kennen sich mit Radfahren nicht aus."

"Ich hatte ein sehr behütetes Leben", entgegnete der Amerikaner. "Dann können Sie nicht begreifen, was es für die Menschen bedeutet", warf der Übersetzer ein. "Radsport ist für das Volk ... ähm ... wie sagt  man ..." "Opium?" "Eine Volksleidenschaft."

"Eddy ist ein Idol, weil die Leute wissen, wie hart er schuftet"

"Morgen fahren Sie bei mir im Auto mit", beschloss der Manager. "Dann sehen Sie es selbst. Eddy ist ein Idol, weil die Leute wissen, wie hart er schuftet. Wenn in Le Mans ein Rennwagen gewinnt, dann ist es die Mechanik, die gewinnt. Eddy dagegen – er muss hart schuften. Verstehen Sie?"

"Bisher verstehe ich nur, dass er sehr schnell Fahrrad fährt. Und sehr oft. Und ich habe gelesen, dass er damit 400.000 US-Dollar pro Jahr verdient und dass in der ‚New York Times‘ jedes Jahr eine Story aus Paris erscheint, in der über Eddy Merckx’ Sieg bei der Tour de France berichtet wird, und dass er in diesen Storys mit Beethoven und Cassius Clay verglichen wird."

Der Manager seufzte. "Haben Sie schon einmal gehört von Mrs Ethel Kennedy? Und von der Rasierklinge von Gillette?" "Ja, die sagen mir beide was."

Superstar: Eddy Merckx umringt von Reportern
Superstar: Eddy Merckx umringt von Reportern
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Eddy Merckx, der Superstar

DER MANAGER HOLTE einen Zeitschriftenartikel aus seinem Portfolio. Es zeigte die Ergebnisse einer Umfrage, die 1970 von der spanischen Tageszeitung "El Mundo" herausgegeben worden war. Die US-amerikanische Hausfrau Ethel Kennedy war zur beliebtesten (und meistbewundertsten) Person weltweit gewählt worden. Auf Platz zwei lag Eddy Merckx. Der Manager legte dem Amerikaner zwei weitere Artikel hin. Sie berichteten darüber, dass Merckx 1971 zum Sportler des Jahres gewählt worden war. Zudem, berichtete der Manager weiter, sei Eddy nun im Fernsehen zu sehen, wo er sich mit einer Gillette-Klinge rasiere, außerdem werbe er für Ariel-Waschmittel, Adidas-Schuhe und Mineralwasser von Vittel Perrier.

Der Manager angelte erneut in seinem Portfolio herum und zog ein kleines Plakat von Eddy heraus, auf dem er einen roten Rollkragenpullover trug und lächelnd eine übergroße Packung Clark’s Tendermint-Kaugummis hochhielt. Bis auf seine unleserliche Unterschrift wurde Merckx auf dem Plakat nicht namentlich genannt. Kaugummikäufer erkennen das Gesicht auch so.

"Merckxist": Merckx und seine Anhänger

"Er ist 27 und schon Millionär", sagte der Übersetzer. Der Manager nickte, vermutlich zur Bestätigung, allerdings schien ihn das Englisch des Übersetzers hin und wieder zu verwirren. Ein großer Mann kam an den Tisch und wurde als Theo Van Griethuysen vorgestellt, Redakteur bei der belgischen Sportzeitschrift "Les Sports". In fließendem Englisch gestand er, Merckxist der ersten Stunde zu sein, und erzählte, sein Sohn besuche ein College in Louisiana, daher sei er vertraut mit der ignoranten Einstellung der Amerikaner zum Radsport.

"Ich habe gehört, dass Eddy dieses Jahr nicht an der Tour de France teilnehmen wird", sagte der Amerikaner in dem Versuch, sein Ansehen zu retten. "Das ist sehr schade." Theo warf den Kopf in den Nacken und lachte. "Das sind doch nur Gerüchte", entgegnete er. Dann wiederholte er das Gerücht für den Manager auf Französisch. Der Manager schüttelte ob dieser traurigen, wenngleich vertrauten Verleumdung langsam den Kopf.

Eddy Merckx bei einem Etappensieg der Tour de France 1969
Eddy Merckx bei einem Etappensieg der Tour de France 1969
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"Aber ich habe es gelesen, und zwar in der ..." "Würde der Kronprinz seine Krönung verpassen?", sagte Van Griethuysen. "Das ist nur eine Geschichte, damit die französischen Journalisten sich das Maul zerreißen können. Jeder möchte gern der Erste sein, der sagt, dass Eddy seine Karriere beendet. Sie können es gar nicht abwarten! Aber er wird noch fünf Jahre lang Champion bleiben."

Radlegende Merckx: "Mit anderen Leuten ist er schüchtern"

Die vier Männer drehten sich zu Merckx und musterten ihn bewundernd. Gerade noch hatte er über etwas gelacht, das jemand am Molteni-Tisch gesagt hatte, nun schien er selbst dabei zu sein, eine Geschichte zu erzählen. "Überall heißt es, er sei sehr scheu und zurückhaltend", sagte der Amerikaner. "Wenn er mit seinem Team zusammen ist, dann ist er fröhlich", entgegnete Van Griethuysen. "Dann lacht er. Dann erzählt er Witze. Aber mit anderen Leuten ist er schüchtern."

„Er ist kein sehr lebhafter Mann“, sagte der Manager. „Er redet mit den Füßen. Das ist seine Art, sich auszudrücken. Auf dem Fahrrad ist er sehr temperamentvoll. Ansonsten überhaupt nicht.“

Van Griethuysen erzählte von einem Vorfall beim Radrennen Lüttich–Bastogne–Lüttich 1970, das von seiner Zeitschrift gesponsort worden war. Das Fahrerfeld mit Eddy Merckx in Führung war dem Ziel schon nah. Als sie auf eine schmale, unbefestigte Straße abbogen, die einen Abhang hinabführte, war einer von ihnen, der Belgier Erik De Vlaeminck, für die Schiedsrichter kurz nicht zu sehen.

Merckx: "Das ist nicht seine Art"

"Er packte Eddy am Trikot, brachte ihn aus dem Gleichgewicht und ermöglichte es so seinem Bruder Roger De Vlaeminck, das Rennen zu gewinnen. Eddy war stinksauer, aber er protestierte nicht. Er prügelte sich nicht mit dem Mann. Das ist nicht seine Art. Er wusste, beim nächsten Mal würde er ihn besiegen. Das waren natürlich ungewöhnliche Umstände. Heutzutage passiert so etwas kaum noch, weil die Rennen so genau überwacht werden, sogar mit Hubschraubern. Die Tage, in denen man mit Stöcken auf die Fahrer losging oder ihnen Nägel oder Reißzwecken in die Bahn streute, sind Vergangenheit."

"Es ist Eddys Wunsch, immer der Beste zu sein, egal, was er macht", erklärte der Manager. "Boxen, Fußball, Tennis. Es gab da dieses Basketballspiel, es war für den guten Zweck, mehr nicht. Aber Eddy bereitete sich zwei Wochen lang darauf vor. Er wollte dabei unbedingt eine gute Figur machen. Seine Mannschaft gewann mit 25 Punkten Vorsprung. Eddy war sehr gut." "Und was ist mit seinen Teamkollegen?", fragte der Amerikaner. "Er ist der Star. Er verdient das ganze Geld. Sie leben in seinem Schatten. Wie kommen sie damit zurecht?" "Sie sind da, um ihm zu dienen", erklärte der Redakteur. "Das ist ihre Aufgabe. Sie sind Wasserträger. Er will keine Sonderbehandlung, aber er ist der Boss. Nicht Molteni, nicht der Coach. Eddy. Er kann sehr hart mit ihnen umspringen, aber das dient der Disziplin der Mannschaft. Wenn es bei ihm gut läuft, läuft es bei allen gut. Sie verdienen Geld. Sie sind sehr gute Domestiken. Manche sind gut darin, in den Bergen zu führen, sie sind Bergspezialisten. Andere sind sehr gut in flachem Terrain. Eddy dagegen ist natürlich überall gut."

Eddy Merckx im Schlusssprint
Eddy Merckx im Schlusssprint
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"Aber ihre Aufgabe ist es, ihm den Rücken freizuhalten? Um ihm das Tempo vorzugeben? Für ihn zu blocken und alles zu erledigen, was gerade nötig ist?" "Natürlich." "Aber wenn er nicht auf dem Fahrrad sitzt, ist er eher der ruhige Typ?" "Oh, er trinkt gern mal ein Gläschen Champagner, und in Paris hat er einmal ein Bier-Wetttrinken gegen Jacques Anquetil gewonnen. Der musste nachher rausgetragen werden. Eddy muss gewinnen, verstehen Sie? Aber manchmal übertreibt er es, wenn Claudine nicht bei ihm ist." "Claudine?" "Seine Frau. Eine hinreißende junge Dame. Sie ist sehr stark. Sie weiß, was sie will."

Die Mannschaftsmahlzeit war vorbei, und Eddy Merckx kam an den Tisch seines Managers herüber. Im Stehen wirk­te er größer – um die 1,80 Meter – und auch dünner, einmal abgesehen von seinen Händen, die riesig sind und nicht zum restlichen Körper zu passen scheinen. Er setzte sich und be­antwortete mithilfe des Übersetzers höflich sämtliche Fragen. Ja, er werde entgegen den Gerüchten bei der Tour de France antreten. Ja, er fühle sich fit. Ja, er komme nur langsam in Schwung, aber die Saison sei ja noch jung, und jetzt müsse er sich entschuldigen, normalerweise sei er um diese Zeit schon längst im Bett. Er müsse um 4.30 Uhr wieder aufstehen, um sich auf das Rennen vorzubereiten. Dann erhob er sich mit dem Versprechen, man würde sich wiedersehen.

Der Manager holte ein weiteres Plakat heraus, dieses noch kleiner, mit einem Porträt von Eddy darauf. Er sollte es für den Amerikaner signieren. Es zeigte Eddy, wie er sich auf sein orangefarbenes Fahrrad lehnte. Er trug ein Trikot mit fünf Blockstreifen in verschiedenen Farben – Blau, Rot, Schwarz, Gelb, Grün – mit dem Schriftzug MOLTENI da­rüber. "Nur ein Fahrer darf dieses Trikot tragen", erklärte der Manager. "Der Weltmeister. Alle Farben des Regenbo­gens. Alle Länder der Welt."

Race-Day: Eddy Merckx und sein schockierender Unfall

IN DEN VOLLGESTOPFTEN ZIMMERN im zweiten Stock des Genter Hotels hing der schwere Duft von Schmerz­gel in der Luft. Auch Eddy Merckx roch danach. Seine Beine, eher lang und sehnig als muskelbepackt, wie man es von einem Radrennsportler vielleicht erwarten würde, waren rasiert und massiert. Er hatte eine Novocain-­Spritze in den Rücken bekommen, dort, wo er sich im März bei einem Unfall in den Pyrenäen mehrere Wirbel verrenkt hatte.

Es war auf halber Strecke zwischen Paris und Nizza passiert, in Saint ­Étienne, wo der Niederländer Gerben Karstens bei 55 km/h vor ihm gestürzt war. Eddy krachte in ihn hinein und wurde durch die Luft geschleudert wie eine Spielzeugfigur. Er landete auf dem Rücken. "Er hätte sterben können", erzählte Van Buggenhout, während sich Eddy anzog. "Er stand auf und wollte weiterfahren, aber es ging nicht. Jetzt ist es besser." Der Molteni­-Trainer trocknete sich die Hände ab. Auf seinem fleckigen Tisch standen die Flaschen und Tuben voll mit den duftenden Tinkturen, die nötig sind, um den Geist von den Schwächen des Fleisches abzulenken.

Radsport: Dopingskandal um Merckx

Die Vergabe von Medi­kamenten und Drogen (insbesondere Amphetaminen) ist im Radsport nicht unüblich, aber es gibt Regeln. Inmitten des Giro d’Italia 1969, den Merckx dreimal gewonnen hat, wurde ihm plötzlich vorgeworfen, er hätte ein Beruhigungsmittel eingenommen. Das ist in Belgien legal, in Italien nicht. Eine Urinprobe wurde genommen. Der Laborbericht war positiv. „Das war Sabotage“, sagte der Manager. „Bei den Italienern kann man nie sicher sein. Die sind raffiniert.“

Es konnte nie bewiesen werden, dass es sich bei der Urinprobe tatsächlich um Merckx’ gehandelt hatte. Doch als er entlastet wurde, war es zu spät, um wieder ins Rennen einzusteigen. Bei der Tour de France forderte Merckx in jenem Jahr, am Ende jedes Wett­kampftages einen Urintest machen zu dürfen.

"Man muss vorbereitet werden", sagte Van Buggenhout. "Sonst bekommt man Krämpfe. Eddy hat letztes Jahr beim Radrennen Lüttich–Bastogne–Lüttich Krämpfe bekommen. Er hatte drei Tage lang Magenprobleme gehabt und nicht genügend trainiert, und es war ein sehr hartes Rennen. Er ist mit vier Minuten Vorsprung allein auf dem letzten Anstieg der Côte des Forges, als die Krämpfe einsetzen. Georges Pintens aus Antwerpen holt ihn zwei Kilometer vor der Ziel­linie ein, und sie liefern sich ein Kopf-­an­Kopf-­Rennen. Da hören Eddys Krämpfe plötzlich auf, und er gewinnt den Kampf um so viel." Der Manager breitet seine Arme aus.

Glück im Unglück

Eddy hatte seine Adidas­-Schuhe, kurze schwarze Radrenn­hosen und ein schwarz­weißes Trikot mit der Aufschrift MOLTENI quer über der Brust angezogen. Er posierte in bester Matador­-Manier vor einem Ganzkörperspiegel und rückte seinen Helm zurecht. Die Polsterung – ein Minimal­schutz – verlief kreuz und quer über seinen Kopf wie das Teiggitter auf einem Apfelkuchen. Beim Hallenrennen 1969 in Blois stürzte der Pacemaker auf seinem Motorrad auf den vordersten Fahrer, der direkt vor Merckx fuhr.

Der kollidierte mit dem Haufen aus zerbeultem Metall und krachte in die Bande. Er war zwei oder drei Minuten lang bewusstlos. Der Pacemaker verlor sein Leben. „Es ist ein sehr gefährlicher Sport“, sagte der Manager. "Menschen sterben, Menschen verletzen sich. Eddy ist sehr oft gestürzt, aber bisher hatte er Glück. Seine einzige schwere Verletzung war die am Rücken."

Eddy Merckx lächelte seinen Besuchern zu, anstatt ihnen einen guten Morgen zu wünschen. "Vor seinen Rennen ist er sehr nervös. Er läuft auf und ab, geht wieder und wieder zu seinen Mechanikern, um alles zu überprüfen. Wenn er so ist, wird etwas passieren." "Und heute?", fragte der Amerikaner. Der Manager zuckte mit den Achseln.

Die Betreuer des Molteni-Teams waren seit vier Uhr früh auf den Beinen, packten Essenspakete – Käse-Schinken-Sandwiches, Bananen, Reiskuchen, Tee –, und vorn auf dem Gehweg ließen die Mechaniker ihre Hände über Zahnräder und Felgen gleiten, drehten sirrende Räder, bürsteten die Ketten mit Schmieröl ein. Die Essenspakete werden en route an Checkpoints an die Radfahrer verteilt. An diesem Rennen, der Flandern-Rundfahrt, würden 150 Sportler teilnehmen, der Sieger würde für die rund 250 Kilometer lange Strecke um die sechs Stunden benötigen.

Der Klassiker in Flandern

Die Flandern-Rundfahrt wird zusammen mit rund sieben weiteren Rennen als "Klassiker" bezeichnet und existiert bereits seit 60 Jahren. Sie ist weder so anspruchsvoll noch so folgenreich wie eine echte "Tour" wie beispielsweise die Tour de France, die 23 Tage dauert und rund 3.350 Kilometer lang ist, oder der Giro d’Italia, der 22 Tage (inklusive einem Ruhetag) dauert, an denen knapp 3.500 km Strecke bewältigt werden müssen. Die Klassiker und die Touren sind die ökonomische Nabel-schnur der konkurrierenden Mannschaften. Der erste Platz bei einem solchen Rennen kann bis zu 10.000 US-Dollar einbringen, der Gewinn wird aber zwischen den Wasserträgern aufgeteilt.

Der Star (Eddy Merckx, dessen Jahreseinkommen 60.000 US-Dollar  beträgt) macht das große Geld mit seinen Auftritten bei 60 bis 80 Eintagesrennen pro Jahr, kurzen Rennen zwischen 100 bis 150 km Länge, die nur an die zwei Stunden dauern, für die er pro Rennen aber zwischen 2.000 und 4.000 Dollar kassiert. Der erste Preis in Gent betrug 3.000 US-Dollar.

Das Fahrrad, das Eddy Merckx benutzen würde, stand unten in einem Vorraum, wo es von einem Mechaniker gewartet wurde. Der Manager erklärte dem Amerikaner das Fahrrad. Es war orange und schimmerte und war zart wie eine Wasserspinne und wog rund 9,5 Kilo. Bei anderen Rennen, beispielsweise beim Zeitfahren, sieht das Rad auf den ersten Blick ganz genauso aus, wiegt aber nur etwas über acht Kilo. Auf dem Dach des mitfahrenden Molteni-Wagens waren Duplikate des Rads befestigt, die im Notfall als Ersatz dienen würden.

Bei einer Tour verwendet Merckx im Durchschnitt drei Räder (beim Giro 1968 verschliss er sogar zwölf), aber heute würde er vermutlich mit ein bis zwei auskommen. Für den Fall eines Platten waren zudem Ersatzreifen vorhanden.

"Eddy mag Regen"

REGEN HATTE EINGESETZT, und ein kühler Wind kam auf. "Gut, der Regen", sagte Van Buggenhout. "Eddy mag Regen. Er ist stark, stärker als die meisten. Aber der Wind ... Ach, der Wind gefällt mir nicht. Wind kann Dinge auslösen. Es ist ein Eintagesrennen. Da hat jeder eine Chance. Auf einer Tour kann niemand sagen: ‚Ich kann es allein gegen Eddy aufnehmen.‘ Niemand. Aber bei einem Eintagesrennen ist alles möglich."

Der Manager und der Amerikaner gingen zurück ins Restaurant, um einen Kaffee zu trinken. Dort gesellten sie sich zu Claudine Merckx und der Frau von Robert Lelangue, Co-Trainer des Teams. Als Claudine auftauchte, wurde sie von den Umstehenden unter demselben Getuschel angestarrt wie ihr Mann. Sie war eine gepflegte junge Frau in einem auffälligen Leopardenmantel mit glänzendem Haar und stechenden, braunen Augen.

Der Manager erzählte, Claudine würde ihr zweites Kind erwarten. Ihre Tochter Sabrina sei jetzt zwei. Claudine und Eddy hätten sich vor acht Jahren kennengelernt, Merckx sei damals noch Amateur gewesen und hätte zu Hause bei ihrem Vater vorbeigeschaut, der belgischer Nationaltrainer war. Dann, berichtete nun Claudine selbst weiter, sei er ihren Vater noch einmal besuchen gekommen, und dann noch einmal. Nach einer Weile sei sich ihr Vater einigermaßen sicher gewesen, nicht der eigentliche Grund für Merckx’ Besuche zu sein.

Eddy Merckx mit Frau Claudine und Tochter Sabrina
Eddy Merckx mit Frau Claudine und Tochter Sabrina
Credit: Imago
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Sie hatte englisch geredet, ein wenig tastend, aber mit großem Ausdruck. Im Gespräch mit dem Manager wechselte sie dann plötzlich ins Französische. Sie wirkte aufgebracht. Der Amerikaner erinnerte sich wieder, dass man ihm erzählt hatte, Merckx’ Haupttrainer sei nach einem Krach mit Claudine gefeuert worden. „Worum geht’s?“, fragte der Amerikaner den Übersetzer „Privatangelegenheit“, antwortete der Übersetzer. „Ja, aber was sagt sie?“ „Es ist sehr privat“, antwortete der Übersetzer und schüttelte dabei lächelnd den Kopf. „Aber sie wirkt wütend. Sie ist wütend.“ „So sind die Brüsseler Mädchen eben“, antwortete der Übersetzer.

Merckx erschien in der Lobby, bereit für das Rennen. Die Molteni-Rennradkappe mit dem hochgeklappten Schirm, auf dem der Sponsorenname zu sehen war, bedeckte die Polsterung auf seinem Kopf. Eddy ging zu Claudine, küsste sie sachte, reichte ihr seinen Geldbeutel und ging. Claudine und der Manager warteten am Tisch. Frauen, sagte der Manager, seien in den offiziellen Begleitfahrzeugen nicht erlaubt. Außerdem sei das sowieso nicht der richtige Ort, um das Rennen zu beobachten. Sie würden zu einer Stelle weiter oben an der Strecke fahren, von dort aus zuschauen, wie die Radfahrer vorbeikamen, und dann zu weiteren geeigneten Aussichtspunkten vorausfahren.

Eddy Merckx war ein Sportfanatiker – auch bei einem Freizeitkick.
Eddy Merckx war ein Sportfanatiker – auch bei einem Freizeitkick.
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Der Manager scheuchte die Männer nach draußen zu seinem Peugeot, Claudine Merckx glitt durch die Menge zum Mercedes ihres Mannes. Die beiden Wagen fuhren davon. "Hat Eddy Merckx viele Herzen gebrochen, als er Claudine heiratete?", fragte der Amerikaner. "O ja, viele", antwortete der Manager. "Er muss ein großer Romantiker gewesen sein." "Nein, im Gegenteil. Romantisch wird er nur, wenn es um sein Fahrrad geht. Claudine war sein erstes Mädchen. Claudine ist sehr gut für Eddy. Eddy muss sich nur um seine Fahrräder Sorgen machen." "Und der Trainer, ist der wichtig?" "Nicht für Eddy", sagte die vierte Person im Auto, ein zerknitterter kleiner Mann mit schlechten Zähnen, bei dem es sich um einen Freund von Van Buggenhout handelte.

Eddy Merckx "ist sein eigener Trainer"

"Er ist sein eigener Trainer. Eddy ist ein natürliches ...   ähm .." "Ein Naturtalent?" "... ein Naturtalent. Le Grand Merckx. Das Naturtalent." "Was unterscheidet ihn von den anderen? Warum ist er so viel besser?" "Er hat keine Schwächen. Er ist kein richtiger Bergfahrer, aber er fährt Berge. Er ist nicht der stärkste Sprinter, aber stark ist er schon. Und Abfahrt ... Ah, er ist ein terrible descendeur." "Terrible?" "Fantastisch. Er ist wie ein Rechenwerk. Einmal wurde er bei 80 Stundenkilometern gemessen. Was für eine Disziplin! Die anderen wissen nicht, wie sie ihn bezwingen sollen. Sie versuchen alles. Sie versuchen, frech zu werden, vorne dichtzumachen. Und trotzdem kommt er immer hinterher. Sie fahren hinter ihm, lassen ihn das Tempo vorgeben, und wenn er loslegt, legen sie auch los. Aber wenn er losgeht, werden sie ihn mit einiger Wahrscheinlichkeit nie mehr wiedersehen. Es ist eine Frage des Temperaments. Die Leute reden immer noch darüber, was er 1969 bei der Tour de France gemacht hat. Er hat es durchgezogen, 70 oder 80 Kilometer lang, über drei ziemlich hässliche Gipfel in den Pyrenäen. Allein. Niemand sonst würde darauf kommen, etwas derart Verrücktes zu tun. Sie würden sterben und es niemals bis zur Ziellinie schaffen. Aber an der Ziellinie ist Eddy der einzige Fahrer weit und breit."

"Und das hat er mehr als einmal getan?" "O ja, sehr häufig sogar", sagte der Manager. "Er war auf dem Titelblatt von ‚Paris Match‘. Sein Herz, seine Lunge und seine Leidenschaft für den Sieg machen ihn zum Champion. Die Ärzte haben seinen Herzschlag gemessen. Es schlägt nur 40- bis 48-mal pro Minute. Selbst wenn er gerade gefahren ist, sind es nur um die 60 Schläge pro Minute. Sie haben sein Lungenvolumen gemessen. Es liegt bei sechs bis sieben Kilo. Der Durchschnitt liegt bei fünf. Aus medizinischer Sicht ist er nicht normal." "Es heißt, er fährt zu viele Rennen. Dass er ausbrennt", sagte der Amerikaner."„Er trainiert hart, 250 bis 300 Tage im Jahr. Über dreißigtausend Kilometer. Dazu fährt er vielleicht 120 Rennen. Aber er gewinnt gleichzeitig auch mehr als irgendwer vor ihm. Er regeneriert schnell. Regeneration, das ist in Zusammenhang mit Eddy Merckx das Zauberwort."

Als die beiden Autos den ersten Aussichtspunkt in Maldegem erreichten, hatte es aufgehört zu regnen. Claudine Merckx hatte dem Manager die gesamte Fahrt über an der Stoßstange geklebt. "Sie fährt wie eine Irre", sagte der Amerikaner. "Ja", sagte der Manager.

Anarchie aus Bild und Ton

CLAUDINE FUHR mit quietschenden Reifen von der Straße, dann versammelte sich die Gruppe unter einer Chiquita-Werbetafel und wartete mit der wachsenden Zuschauermenge. Die Straße war bereits für den Verkehr gesperrt. In der Ferne war ein Hubschrauber zu erkennen. Claudine beschwerte sich beim Manager über etwas. Der Übersetzer sagte, es ginge um die unzureichende Anzahl von Ersatzreifen auf dem Molteni-Wagen. Er hob die Brauen.

Auf einmal zerriss das Schrillen einer Sirene die relative Stille, und ein Polizist auf einem Motorrad erschien auf der Straße – der Vorausfahrer, der den Weg frei machte. Allerdings fuhr er so schnell, dass man von Glück reden konnte, dass die Straße bereits frei war. Was folgte, war eine Anarchie aus Bild und Ton. Sirenen und wildes Gehupe. Weitere Polizisten auf Motorrädern. Ein komisch anmutender Konvoi von Werbefahrzeugen, einige in Form der Produkte, die sie bewarben (eine Bierflasche, eine Zitrone). Die Fahrer bewarfen die Zuschauer mit Gummispielzeug, Kaugummis und Zigaretten, während aus den Lautsprechern Musik und Werbesprüche plärrten. Es folgten mit beunruhigendem Tempo die offiziellen Pressefahrzeuge. Danach eine kurze Pause und dann der Flaggenwagen und direkt dahinter die Radfahrer mit ihren erhobenen Hintern und gesenkten Köpfen – ein riesiger Wirbel aus Metall, strampelnden Beinen, klickenden Ketten, der an ein gigantisches Uhrwerk erinnerte, von dem jemand für einen kurzen Augenblick den Deckel gehoben hatte. Danach kamen die Mechaniker in ihren Autos. Sie drückten sich die Nasen an den Windschutzscheiben platt, die Ersatzreifen auf ihren Autodächern drehten sich langsam rückwärts.

Dann, ganz plötzlich, Stille. Der Deckel hatte sich wieder geschlossen. Sie waren fort. "Haben Sie Eddy gesehen?", rief der Manager. "Er war Fünfter." "Ja!", rief der Amerikaner zurück. "Nein. Es ... Das ging alles so schnell. Sie sahen alle gleich aus." "Kommen Sie, wir gehen", sagte der Manager.

Pelé, Muhammad Ali – und Eddy Merckx

Sie rasten weiter nach Lichtervelde, wo sie ein weiteres Konzert aus Sirenen, Hupen und Slogans erwartete. Als die Radfahrer kamen, zählte der Amerikaner mit, wie lange sich die Fahrer an der Spitze in seinem Sichtfeld auf hielten: sechs Sekunden. "Eddy ist Dritter", verkündete der Manager. "Er befindet sich in einer guten Position. Haben Sie ihn gesehen?" "Ich glaube schon", entgegnete der Amerikaner. "Sein Mund stand offen. Andererseits ... Es gibt keine Unterschiede beim Stil. Ich meine, niemand spielt wie Pelé, deswegen weiß man, das ist Pelé. Muhammad Ali erkennt man sofort. Aber hier? Sie fahren alle gleich."

Der Übersetzer machte sich nicht einmal die Mühe zu übersetzen. "Eddy hat einen Stil", sagte der zerknitterte kleine Mann. "Einen sehr ausgeprägten sogar. Es heißt, wenn ein anderer Fahrer versuchen würde, ihn zu imitieren, würde er vom Rad fallen." Nach dem vierten Halt nahm der Amerikaner Claudines Einladung an, bis zur Ziellinie in Gent in ihrem Mercedes mitzufahren. Der Manager hatte beschlossen, direkt ins Hotel zurückzukehren. Claudine sagte, sie wolle unbedingt da sein, um ihrem Mann beizustehen. Sie versuchte zu erklären, warum Eddy nun nahezu keine Chance mehr auf den Sieg hatte. Dass es an diesem Punkt des Rennens andere gab, die ihn im Sprint schlagen würden.

"Wie soll ich Ihnen klarmachen, was los ist, wenn Sie keine Ahnung von nichts haben?", fragte sie. Beim Reden gestikulierte sie mit der Hand, steuerte ihr Fahrzeug aber immer noch elegant, in einer Art kontrolliertem Wahnsinn. Sie kam 20 Minuten vor dem Tross am Ziel an.

Die lange Zielgerade war zu beiden Seiten von Zuschauern gesäumt. Die Gaststätten am Wegesrand waren offen und proppenvoll, die Kunden tranken Bier und sahen sich dabei im Fernsehen das Rennen an. Claudine bestellte ein Zitronengetränk. Als angekündigt wurde, dass die Fahrer gleich eintreffen würden, eilte sie nach draußen und suchte sich eine Stelle hinter der Ziellinie, an der sie Eddy abfangen konnte. Der Amerikaner stellte sich auf ein Podest, das für die Fotografen gedacht war, um den Endspurt mitanzusehen. Er wurde gefragt, ob ihm das Rennen gefallen habe. Ja, sagte er, aber es sei unmöglich, etwas zu sehen. "Man hat es im Blut", antwortete man ihm darauf. "Oder eben nicht."

Das Tagebuch von Eddy Merckx

Eddy Merckx fuhr als Siebter über die Ziellinie, schlammbedeckt bis zur Unkenntlichkeit, abgesehen von ein paar MOLTENIs. Claudine küsste ihn, als er neben ihr hielt, dann fuhr er mit gesenktem Kopf durch den Regen zum Hotel. In Brüssel und Paris wird ein Buch verkauft, dessen erstes Kapitel mit diesen Worten beginnt. Und es gibt noch eines, "Mes Carnets de Route". Es ist Eddy Merckx’ Tagebuch der Saison seines Lebens. Das letzte Kapitel trägt die Überschrift "Mission Accomplie". Kein Radfahrer hatte je so eine Saison: Von den 120 Rennen, an denen er teilnahm, gewann er 53, darunter seine dritte Tour de France in Folge.

Diesen Monat wird er die vierte fahren, eine Leistung, die vor ihm nur der Franzose Jacques Anquetil erbrachte (1961–1964). Auf halber Strecke des Rennens ist er auf Platz eins und der klare Favorit für den Sieg. Doch die Franzosen, die finden, die Tour de France sei am Ende ja nun immer noch ihre Party – und wer hätte diesen Merckx überhaupt eingeladen? –, nahmen den zunehmenden Merckxismus mit wenig Humor auf. Die Sportjournalisten schmollten („Er macht den ganzen Spaß am Radrennsport kaputt“) und beschwerten sich darüber, die Tour würde "ihre Leidenschaftlichkeit verlieren". Ihre Rennfahrer "würden Eddy Merckx auf der Straße nicht erkennen, weil sie ihn immer nur von hinten zu sehen bekommen".

Da sie an seinen Leistungen keinen Fehler finden können, werfen sie ihm eben mangelnden Esprit vor. Louison Bobet, der die Tour de France dreimal in Folge gewann, sagte: "Merckx ist fast schon zu professionell. In meiner Generation verstanden sich die Radrennfahrer als vedettes, als Figuren der Öffentlichkeit, die dem Publikum etwas schuldig waren. Wir waren aus dem Häuschen, wenn wir gewannen, wütend, wenn wir verloren. Unsere gesamte Entourage fieberte mit. Merckx interessiert sich nur fürs Radfahren und fürs Gewinnen." Merckx, sagte Anquetil, "ist der kälteste Radfahrer, den ich je erlebt habe. Alle Radrenn-Champions sind kaltblütig, und wir alle gewinnen gern, aber Merckx muss immer gewinnen. Und nicht nur um 20, 30 Sekunden, sondern um fünf, sechs Minuten." Allerdings betonte Anquetil auch, Eddy Merckx sei "eine Klasse für sich".

Eddy Merckx vor seinem Zuhause bei Brüssel
Eddy Merckx vor seinem Zuhause bei Brüssel
Credit: Imago
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Und dann ist da noch etwas. Etwas, das viele Athleten auszeichnet, die mit einer solchen Selbstverständlichkeit siegen, als seien sie für ihren Sport geboren: Seine Ausdruckslosigkeit, die vermutlich auf reiner Schüchternheit beruht, verleiht ihm etwas fast schon Übermenschliches. Manchmal erinnert er an einen Yogi, der, ohne mit der Wimper zu zucken, auf einem Nagelbrett schläft. Ein Effekt, zu dem auch die vielen Gelegenheiten, bei denen er von hinten auf holte, um sich den Sieg zu holen, ihren Teil beitrugen.

Die Journalisten, die enger mit ihm vertraut sind, behaupten, es gäbe zwei Eddy Merckx’. Einer ist der kalte, ausdruckslose Killer auf dem Rennrad. Der andere, anzutreffen bei ihm zu Hause in seiner Villa vor den Toren Brüssels, ist eine sympathische, extrovertierte Plaudertasche. Die Merckx’ wohnen in einem modernen gelben Haus mit Glasbausteinwänden und grauem Dach in der Avenue des Bécasses in der Brüsseler Vorstadt Kraainem, darin: konisch geformte Aluminiumlampen, Gemälde von Eddy, die von Marie-Esmeralda gefertigt wurden, Tochter des früheren Königs Leopold und begeisterte Merckxistin, und ein riesiges Panoramafenster, das auf den Garten hinausgeht, der von einer Gruppe hoher Bäume gesäumt wird. Als der Amerikaner im vergangenen Frühling zu Besuch kam, zeigte sich an den Bäumen bereits das erste zarte Grün.

Eddy trug einen Rollkragenpullover, Claudine ein langes Kleid mit kniehohem Schlitz. Sie servierte Kaffee und Gebäck. Van Griethuysen hatte den Amerikaner hergebracht, nun moserte er über die französischen Journalisten. Eddy war beim Arzt gewesen. Seit dem Rennen in Gent bereitete ihm seine Rückenverletzung keine Schmerzen mehr. Keine weiteren Spritzen. Er war bester Laune. Während die anderen ihren Kaffee tranken, holte er sich einen Kakao und machte es sich in einem riesigen Samtsessel bequem.

Als Schuljunge "die Leidenschaft" fürs Radfahren entwickelt

Auf Bitten des Amerikaners zeichnete er seinen Aufstieg nach. Wie er als Schuljunge "die Leidenschaft" fürs Radfahren entwickelt hätte. Er erinnerte sich, wie er von einem Lehrer aufgefordert worden sei, vor der Klasse von seinen Zielen zu erzählen. Er habe geantwortet: "Ich will ein weltbekannter Radrennfahrer werden."

Merckx’ Vater besaß ein Lebensmittelgeschäft in der Vorstadt von Woluwe-Saint-Pierre. Seine Mutter wollte nicht, dass er Rennrad fuhr. „Sie glaubte nicht, dass man damit Geld verdienen könnte“, erzählte er. "Sie sagte, ich solle zur Schule gehen." Sie wollte, dass er Sportlehrer wurde. Aber in der Schule träumte er nur vom Radfahren. Am meisten träumte er im Französischunterricht. Seine Noten waren durchgängig schlecht, sein Französisch katastrophal.

Als seine Mutter nach einer kleinen Operation zur Genesung an die Küste reiste, nutzte Eddy "die Gelegenheit, um auf einem kleinen Rummel an einem Rennen teilzunehmen. 60 Kilometer. Ich wurde Sechster." Er war 16. Am selben Tag (dem 16. Juli 1961) gewann Jacques Anquetil seine erste Tour de France.

Der steile Aufstieg von Eddy Merckx

Irgendwann gab Mutter Merckx nach. Sie erlaubte Eddy, von der Schule abzugehen und sich ein Jahr lang als Radrennsportler zu versuchen, solange er dabei für den Laden arbeitete und Lebensmittellieferungen ausfuhr. Sein erstes Rad – ein Ein-Gang-Modell für Amateure – kauften sie von Félicien Vervaecke, einem belgischen Champion aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, der auch der "König der Berge" genannt wurde. Damals schon konnte Vervaecke erkennen, dass "Eddy das nötige Temperament hatte: Rennen, Rennen, Rennen".

1964 gewann Eddy die Amateur-WM. 1965 wurde er Profi. Im Dezember 1967 heiratete er Claudine. 1969 wurde er mit offenem Verdeck durch die Straßen von Brüssel zu einem Empfang im Palast gefahren. Er war der erste belgische Gewinner der Tour de France seit 1939. "Die Leute waren völlig aus dem Häuschen", sagte Van Griethuysen.

Der Amerikaner überlegte laut, was für eine einsame und abgeschottete Angelegenheit es sein müsse, Langstreckenrennen zu fahren. Dass es etwas für Sonderlinge sei, so wie Kanalschwimmen oder Insektenfotografie. Eddy nippte an seinem Kakao und überlegte. "Ich brauche keine Gesellschaft, um glücklich zu sein", sagte er dann. "Aber wie amüsieren Sie sich dann? Ich meine, abgesehen davon, die Tour de France zu gewinnen?" "Er mag Musik", sagte Claudine. "Fats Domino. Louis Armstrong." "Er ist glücklich, wenn er unten im Keller ist", fügte der Manager hinzu.

In der Werkstatt von Eddy Merckx

"Im Keller?" "Kommen Sie", sagte Claudine. Sie führte den Amerikaner nach unten in ein Wunderland aus Zahnrädern und Ketten und Schraubenschlüsseln. Eine ordentliche Reihe von 100 Rädern, teilweise schon seit drei Jahren bereift, damit sie hier im Küh­len aushärten konnten (je älter, desto robuster). Eine Auswahl an Rädern und ein Laufband, auf dem man Rad fahren konnte. Es gab eine Sauna und einen großen portablen Spiegel, den Claudine für Eddy hielt, damit er sich selbst beobachten konn­te, wenn er auf dem Laufband in die Pedale trat. Sie sagte, manchmal würde sie stundenlang so dasitzen und den Spiegel halten oder Eddy dabei zusehen, wie er an der Werkbank arbei­tete, Löcher bohrte oder mit seinen Satteln experimentierte.

"Ein Fahrrad ist kein Spielzeug", sagte Eddy Merckx. "Es muss Geld bringen. Es muss sein Maximum leisten. Ich bin besessen vom Sattelwinkel. Manchmal bin ich mitten im Ren­nen plötzlich nicht mehr ganz sicher, ob ich eine gute Sitzposi­tion habe. Also habe ich einmal die Neigung verändert. Aber das war ein Fehler. Ich musste sie zurückändern. Eddy Merckx verursacht keine Revolution im Fahrraddesign. Rennradfahren ist ein Gefühl. Man muss die Schwächen kennen, den richtigen Zeitpunkt für einen Angriff, die Wichtigkeit von Strategie be­greifen. Zwischen 1962 und 1964 habe ich mich körperlich stark verändert. Meine Beine sind länger geworden. 1966 und 1967 wuchsen sie immer noch, und es gab deswegen viel Gerede, aber sie sind nicht länger als die von vielen anderen auch." Es ist keine Frage der Form, sondern des Gefühls. Und, wie bei jedem Sport, des Verlangens.

Eddy Merckx: "Es wäre negativ, an später zu denken"

DER AMERIKANER SCHOB eine Frage ein. Ob es ... ähm ... vielleicht einen Punkt gebe, an dem der Aufwand für Champions zu schmerzhaft sei und die Siege weniger befriedigend würden? Ob es irgendetwas gebe, worauf er sich freue, wenn er den Radsport eines Tages an den Nagel hängen würde? "Ich freue mich nicht auf Dinge", sagte Eddy Merckx. "Ich lebe von Tag zu Tag. Es wäre negativ, an später zu denken. Ich habe im Augenblick keine Zeit, mich mit der Zukunft auseinanderzusetzen."

Und überhaupt, sagte er, müsse er sich jetzt verabschieden. Er hätte noch eine Verabredung, bei der er sich für einen Kameramann rasieren oder für einen Fotografen Mineral­wasser trinken müsse, so etwas in der Art.

Als der Amerikaner ging, drehte er sich noch einmal nach Eddy Merckx’ Villa um. Registrierte, dass der Rasen im Garten des Millionärs dringend einmal wieder gemäht werden musste. Er fragte sich, welche der französischen Journalisten aus seinem Bekanntenkreis darin wohl ein tröstliches Zeichen des Verfalls erkennen würden. Ihm gefiel der Gedanke, dass er sein Wissen für sich behalten würde. Encore, Merckx. Et toujours.

 

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