FUSSBALL-WM 2022

Fußball-WM ist Spagat zwischen Chance und Schande: Wer muss sich wirklich strecken?

Die WM in Katar lenkt die globale Aufmerksamkeit auf einen Unrechtsstaat. Sie wird so zum Spagat zwischen Chance und Schande, Beifall und Boykott, Turnier und Talkshow. Die Frage ist allerdings: Wer muss sich wirklich strecken? Eine Ännaherung von Lucas Vogelsang.

Al Thumama Stadion Katar
Credit: Imago
Sports Illustrated 05/22
Manuel Neuer und Leon Goretzka im Exklusiv-Interview
Die neue Ausgabe von Sports Illustrated mit Manuel Neuer und Leon Goretzka im Exklusiv-Interview
Sports Illustrated 05/22
Manuel Neuer und Leon Goretzka im Exklusiv-Interview

Inhalt

  • Fußball-WM in Katar spaltet die Gesellschaft
  • Fußball-WM 2022 in Katar: Chance oder Schande?
  • Lucas Vogelsang nähert sich der Katar-Frage an

Zwei Monate vor dem Eröffnungsspiel der Fußball-Weltmeisterschaft im Al-Bayt Stadium von Doha klingelte im „Hilton“-Hotel am Airport München das Telefon. Es war Sonntagmittag, es war „Doppelpass“, und am anderen Ende der Leitung meldete sich Uli Hoeneß, mal wieder in Angriffslaune. Natürlich wurde er durchgestellt. Live in die Runde, sein Gesicht übergroß auf der Leinwand. Ein Bond-Bösewicht vor den Vereinten Nationen.

Der Grund für den Anruf des ehemaligen Bayern-Präsidenten saß derweil rechts neben Mario Basler und wirkte nicht sonderlich überrascht. Andreas Rettig, früher einmal Geschäftsführer der DFL, hatte sich in den Minuten zuvor unmissverständlich positioniert. Gegen die WM-Vergabe nach Katar. Und auch gegen die Beziehungen der Bayern am Golf.

Jetzt bezeichnete ihn Hoeneß, so zur Begrüßung, als König der Scheinheiligen. Dann drückte er seine eigene Sicht auf die Dinge durch den Hörer. Die WM, sagte Hoeneß also, das Engagement des FC Bayern und andere Sportaktivitäten in der Golf-Region werden dazu führen, dass die Arbeitsbedingungen für die Menschen dort besser werden. Wandel durch Handel, sein Hauptargument.

Aber auch Rettig hatte die richtigen Vokabeln mitgebracht, war gut vorbereitet. Blieb sachlich und ruhig. Sprach von Sportswashing, der Propaganda aus Doha, längst selbst Kampfbegriff, und nannte Hoeneß einen Botschafter von Katar. Ein mit Topspin gespielter Return, ein Schlagabtausch im besten Sinne nun. Und natürlich wurde auch der Kaiser zitiert, der vor zehn Jahren schon keine Sklaven in Katar gesehen hatte. Und natürlich empfahl der Hoeneß dem Rettig, doch mal selbst hinzufahren. Um intensiver zu suchen.

So saßen sie sich gegenüber, der eine polternd am Tegernsee, der andere leicht nach vorn gebeugt im Showsessel. So standen sie stellvertretend. Zwei Männer, unversöhnlich im Widerspruch. Zwei Männer als Sinnbild wohl auch. Für eine Debatte, die in den Wochen vor dem Beginn der Weltmeisterschaft in der Wüste noch einmal deutlich lauter geführt wurde. In den Wohnzimmern und Kneipen, in der Kurve und in den Redaktionen.

Denn Katar hatte die Gemüter erhitzt. Weil diese Weltmeisterschaft für all das steht, was den Fußball seit Jahren unerträglich macht. Kommerz und Korruption, Ausverkauf und Ausgrenzung. Das System ist krank. Und Katar das bisher sichtbarste Symptom dieser Krankheit. Das ganze Turnier eine Perversion, die Stadien künstlich heruntergekühlt, die Stimmung künstlich aufgeschüttet. Eine Endrunde, an Gegenwart und Wirklichkeit, am Zeitgeist selbst vorbeiorganisiert.

Stadion-Baustelle Katar
Im Bau: Während der Arbeiten an den Stadien in Katar sollen mindestens 6.500 Arbeiter ums Leben gekommen sein
Credit: Getty Images
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Dass in Katar beim Thema Menschenrechte, beim Thema Nachhaltigkeit vieles nicht stimmt, ist ja offensichtlich, sagte Bundestrainer Hansi Flick in der „Süddeutschen Zeitung“. Denn auch die moralische Mängelliste ist lang. Da sind, zuvorderst, die Schlagzeilen, diese irren Zahlen. Die Toten auf den Baustellen, 6.500 wahrscheinlich. Vielleicht sogar mehr, dazu die Bilder aus den Unterkünften der Gastarbeiter, heimliche Aufnahmen unheimlicher Zustände.

Und wenn Uli Hoeneß den kühnsten Kritikern gerne empfiehlt, sich einmal selbst ein Bild vor Ort zu machen, dann ignoriert er, dass es Menschen gibt, die gar nicht nach Katar fliegen können. Oder wollen, weil ihre Sexualität dort unter Strafe steht. Für Schwule und Lesben ist der Golfstaat eine tatsächliche Wüste, sie kann ihnen zum Verhängnis werden. Und während der Emir im Spätsommer verkündete, dass Katar Fußballfans aus allen Gesellschaftsschichten mit offenen Armen empfangen wird, gab es immer noch Hotels im Land, die Buchungen gleichgeschlechtlicher Paare ablehnten. Eine Inventur der Intoleranz.

Wenn ich in ein Land reise, in dem nicht ganz klar ist, ob ich eingesperrt oder sogar zum Tode verurteilt werden kann, dann ist das einfach falsch, erklärte der ehemalige Nationalspieler Thomas Hitzlsperger in einem Interview Mitte September. Eine Antwort als Alarmsignal. So wurden, folgerichtig nur, am Ende immer wieder dieselben Fragen gestellt. Sie standen im Raum, ethische Elefanten. Was, zur Hölle, machen wir jetzt. Mit diesem Turnier. Darf man noch Fan sein, wenn der Jubel auf verbrannte Erde fällt? Wie verhalten wir uns im Advent? Und, vor allem: Was erwarten wir von denen, die dort sein werden, als Botschafter mit Ball? In kurzen Hosen auf dem Feld, im Anzug auf der Tribüne. Den Adler auf der Brust, die Öffentlichkeit im Rücken.

Vor ihrem Auftaktspiel bei der WM in Katar setzte die DFB-Elf ein Zeichen: Die Spieler hielten sich aus Protest gegen das vorangegangene Verbot der "One Love"-Binde den Mund zu
Deutschland setzt ein Zeichen bei der WM 2022 in Katar
Credit: EPA
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AM LAUTESTEN, so ist das ja meist, waren lange all diejenigen, die immer gleich die scheinbar einfachste Lösung dabeihaben. Zwischenrufe vom Schreibtisch aus, gemütlich eingerichtet in der Gegenrede. Sie wollten den unbedingten Boykott, die absichtliche Abwesenheit.Ohne Spieler keine Spiele, ohne Spiele keine Show. Ging natürlich nicht mehr. Die Verträge waren längst unterschrieben, alle Unterkünfte gebucht. Diese schöne Burg am Rande der Wüste, Quartiersmanagement. Der DFB hat für Katar eher keine Rücktrittsversicherung abgeschlossen.

Generell bin ich der Meinung, sagte Joshua Kimmich stellvertretend für Verband und Mitspieler, dass wir für einen Boykott zehn Jahre zu spät dran sind. Weshalb die anderen, Romantiker womöglich, ihre letzte Hoffnung nun in den Fußball selbst stecken. In die Kraft der Worte, die Konfrontation am Rande des Spiels. Der Sport als beweglichste Form der Diplomatie, das Flutlicht der Stadien als bestes Brennglas auf die Verhältnisse. Doch wer soll dann sprechen? Im Namen des Fernsehvolkes. Diese Sache mit der Haltung, sie ist ja gerade im Sport eine schwierige, bisweilen sogar schmerzhafte Turnübung.

Nationalmannschaft zwischen Sport und Humanität

Wir müssen darauf achten, diesen Spagat zu finden, hatte Oliver Bierhoff gesagt, zwischen der Verantwortung und dem Bewusstsein, das wir als Menschen haben. Bierhoff ist seit vielen Jahren der Manager der Nationalmannschaft, ein Hashtag-Minister, früher aber hat er selbst noch gespielt, goldene Tore geschossen. Er kennt die Prozesse in der Kabine. Und den viel zitierten Druck, der diesmal von zwei Seiten kommt. In Katar dürften seine Spieler, um in der Fußballersprache zu bleiben, gedoppelt werden. Vom Anspruch in die Zange genommen. Sie sollen ein gutes Turnier spielen, die Fehler der Vergangenheit damit vergessen machen, Stichwort Russland. Und sie sollen sich auch außerhalb äußern, damit die Fehler der Vergangenheit nicht umsonst gemacht wurden, Reizwort Katar.

In den Wochen vor der Weltmeisterschaft wurden sie nicht nur auf das Turnier, sondern auch auf das Land vorbereitet. Das etwas andere Abschlusstraining, Menschenrechtsverteidiger. Für Trainer und Spieler ist die WM, erklärte Hansi Flick im Gespräch mit der „SZ“, das größte Event, bei dem entsprechender Erfolg verlangt wird. Danach werden wir bewertet. Am Ende auch von der Öffentlichkeit, die mir politische Fragen stellt.

TATSÄCHLICH EIN Spagat. Der Zuschauer selbst hat es da deutlich einfacher. Er kann mit der Fernbedienung entscheiden, einfach nicht einschalten. Er darf stattdessen in den Keller gehen und sich noch einmal die WM 1990 anschauen, auf VHS. Der Kaiser allein auf dem Rasen von Rom. Goldene Zeiten.

Es gibt Kneipen in Köln, die werden diese Spiele nicht übertragen. Es gibt Menschen, die haben tatsächlich Besseres zu tun. Für einen Fußballer aber ist eine Weltmeisterschaft der Höhepunkt seiner Karriere, er hat im Zweifel Jahre darauf hingearbeitet. Ihm dieses Turnier zu verbieten, ihm jetzt in die Konzentration zu grätschen, grenzt an Bevormundung. Und es wäre ein Fehler, eine Haltung zu erzwingen. Künstlich ist in Katar ohnehin schon genug. Zumal es nur wenige Dinge gibt, die unangenehmer anzuschauen sind als Fußballer, die sich politisch positionieren müssen, wenn Pressekonferenzen plötzlich zu Talkshows verkommen. Und Reporter, die sonst Stellungsfehler benoten, ihren Zeigefinger in die Wunde legen wollen.

Nico Schlotterbeck: Das ist Sache der Politik

WAS PASSIERT, wenn sich die Mannschaft unter Beobachtung verhalten muss, wurde dem Zuschauer bereits im März 2021 eindrücklich vorgeführt. Damals, unmittelbar vor dem Anpfiff zum WM-Qualifikationsspiel gegen Island, trugen die deutschen Nationalspieler schwarze, von ihnen selbst bemalte T- Shirts, darauf eine Botschaft in weißer Farbe. Zwei Wörter auf elf Körpern, HUMAN RIGHTS. Ein Signal aus dem Innern des Teams, so schien es zuerst. Dann allerdings veröffentlichte der DFB ein Video zur Aktion, und es roch mal wieder nach Marketing, nach einer von oben angeordneten Aktion.

Wir Spieler, erklärte Nico Schlotterbeck im Herbst 2022, können aus meiner Sicht ohnehin wenig beeinflussen, das ist in erster Linie eine Sache der Funktionäre und der Politik. Wir Sportler haben das Turnier nicht nach Katar vergeben. Er hatte natürlich recht. Die Verantwortung sitzt auf den Tribünen, gleich neben dem Emir. Sie liegt bei den Präsidenten und Delegationen, jenen Männern und Frauen, die bei Siegerehrungen gerne lächelnd ganz vorne stehen und am liebsten alle Hände schütteln. Sie wollten diese WM, sie dürfen jetzt nicht wegschauen.

Und selbst Hansi Flick, der Bundestrainer, kann sich nicht in seiner Burg verschanzen. Er ist der Herbergsvater, er muss länger wach bleiben als der Rest. Das erste offizielle Zeichen allerdings war deutlich kleiner als erhofft. Denn nur wenige Tage bevor Uli Hoeneß im „Doppelpass“ Werbung für Katar machen durfte, hatte der DFB seine neue Kapitänsbinde vorgestellt. Sie sollte Symbol sein. Sie wurde ein Kompromiss. Die Regenbogenfarben darauf in ein schmales Herz gepresst. Ein bisschen Freiheit, in klaren Grenzen. Diese Binde, sie schien mehr Botschaft der Besänftigung als Signal an die Welt.

Bundestrainer Hansi Flick bei der WM 2022 in Katar
Bundestrainer Hansi Flick bei der WM 2022 in Katar
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Ich glaube nicht, hatte Thomas Hitzlsperger noch gesagt, dass der DFB und andere Verbände etwas ändern können, in den wenigen Wochen, die sie da sind. Sie sollten es aber wenigstens versuchen. Hitzlsperger, das immerhin dürfte Uli Hoeneß freuen, wird trotzdem nach Katar fahren. Als Experte für die ARD. Eine gute Nachricht. Und eine erste Antwort, auf all die Fragen, die uns dieses Turnier noch stellen wird.

 


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