EM 2024

Marcus Urban über Gruppen-Coming-out: "Müssen Teufelskreislauf durchbrechen"

Marcus Urban plant am 17. Mai 2024 ein Gruppen-Coming-out. Im Sports-Illustrated-Interview spricht der Thüringer über sein Projekt, homosexuelle Spieler im Profi-Fußball und nennt die Gründe, warum er sich seit vielen Jahren gegen Homophobie engagiert.

Marcus Urban plant am 17. Mai 2024 ein Gruppen-Coming-out
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Marcus Urban, 1971 in Weimar geboren, war Fußballer beim FC Rot-Weiß Erfurt. In seinem Buch "Versteckspieler" berichtete er 2008 über sein Leben als homosexueller Spieler sowie Homophobie im Fußball. Seit dieser Zeit engagiert er sich für Vielfalt, Selbstbestimmung und mentale Gesundheit im Sport. Für den 17. Mai 2024 plant Urban ein Gruppen-Coming-out, bei dem sich Fußball-Profis zu ihrer Homosexualität bekennen können. Sports Illustrated hat mit ihm gesprochen.

Sports Illustrated: Herr Urban, wie groß war der Druck, sich in Ihrer Karriere in den 1980er und 1990er Jahren als homosexueller Fußballer verstecken zu müssen?

Marcus Urban: Ich habe mich 24 Stunden versteckt. Ich war schon depressiv, bevor ich in den Fußball kam. Das wusste ich damals noch nicht. Ich war schon als Kind depressiv. Da spielte auch Gewaltmissbrauch von beiden Erziehungspersonen eine Rolle. Dann sollte der Fußball eine Rettung sein. Aber ich musste mich 24 Stunden verstecken. Doping, Mobbing, psychische Störungen. Es war ein Überlebenskampf. Dass ich mich dann noch verleugnen musste, hat nicht geholfen, dass es besser wird. Ich trat übertrieben aggressiv auf. Ich war ein relativ brutaler Spieler, der immer unter Strom stand. Es war ein Überlebenskampf. 

Sports Illustrated: Wie wichtig ist es, dass sich schwule Fußballer selbst zu Wort melden und selbstbewusst erklären, dass Schwulsein etwas Normales ist?

Urban: Es würde dem Ganzen helfen, diesen Duktus von Anrüchigkeit zu nehmen. Wenn etwas verheimlicht wird, etwas völlig Normales wie Liebe, Leidenschaft, Partnerschaft, entsteht der Eindruck, dass es etwas Anrüchiges ist. Ich verbiete anderen Leuten auch nicht, über ihre Frau oder ihre Kinder zu sprechen. Genauso dürften mir meine homosexuellen oder bisexuellen Freunde von sich erzählen, dass sie sich lieben oder Liebeskummer haben. Es ist unglaublich einschneidend, wenn du Liebe und Partnerschaft verheimlichen musst. Es kostet viel Energie. Als Fußballer soll man Erfolg haben und Geld verdienen. Alles okay, aber nicht um den Preis, dass man sich die ganze Zeit verleugnen muss. 

Sports Illustrated: Wann soll das geplante Gruppen-Coming-out von Profi-Fußballern stattfinden?

Urban: Wir haben für den 17. Mai 2024 geplant. Der Internationale Tag gegen Homosexuellenfeindlichkeit (Bi,- Inter,- Transfeindlichkeit - IDAHOBIT) ist ein würdiges Datum. Es ist ein erstes Angebot an die Spieler. Momentan habe ich auch Kontakt zur Premier League. Wir haben schon Leute aus England, Österreich und Deutschland, die sich outen wollen. Da geht es aber nicht nur um Spieler, sondern auch um Mitarbeitende, Trainer und Schiedsrichter. Es wird den Spielern helfen. Wenn sie sehen, da gibt es noch andere. Die Fußballer hatten in den vergangenen Jahren mehrere Versuche, sich zu outen. Aber viele wollten nicht, weil sie Angst bekommen haben, dass sie im Stich gelassen werden von den Vereinen, von Sponsoren, von Fans und von Mitspielern. Deswegen wäre es wichtig, wenn sich Vereine bekennen, Geld spenden und Sponsoren hinzukommen. Ich glaube, dass es eine Fehleinschätzung ist. Die Spieler werden nicht im Stich gelassen, auch wenn sie das vielleicht denken. Das wollen wir beweisen, dass es eine Fehleinschätzung ist. Dafür braucht es alle zusammen.

Sports Illustrated: Wie wird das Gruppen-Coming-out im Detail aussehen?

Urban: Wie die Spieler, die Sportler:innen, das machen, bleibt ihnen überlassen. Es kann auch sein, dass sie es außerhalb dieser Aktion machen. Oder einen Monat später. Jeder 17. des nächsten Monats ist auch ein "Sports-Free-Day". Wir sind nicht fixiert auf dieses Datum. Es ist unrealistisch zu meinen, dass sich alle gleichzeitig zum gleichen Datum zeigen wollen. Es sind schüchterne Charaktere dabei, die sich das vielleicht erst einmal anschauen und es einen Monat später oder vielleicht sogar ein Jahr später machen. Wir haben das flexibel gestaltet, dass es individuell möglich ist. Es wird eine digitale Bilderwand geben. Wie bei ActOut. Auf dieser Bilderwand kann man ein Video stellen, wie es Thomas Hitzlsperger gemacht hat. Einen Text oder erst einmal einen Avatar. Oder man zeigt sich mit seinem Partner oder in einer Gruppe mit Freunden. Es gibt viele Möglichkeiten, weil die Leute sehr unterschiedlich sind. Das werden sie auch sehr verschieden machen. Und so bauen wir das Projekt. Das gibt es dann zu sehen. Außerdem drehen wir einen Film. Eine Art Making-of. 

Regenbogenbinde
Regenbogenbinde
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Sports Illustrated: Denken Sie, dass sich durch ein zeitgleiches Coming-out mehrerer Fußballspieler die Einstellung der Gesellschaft grundlegend verändert?

Urban: Es ist gut möglich. Wenn sich alle gleichzeitig zeigen würden, würde es das komplette Bild verändern. Vom Profisport über die gesamten Jahrzehnte. Meine Namensliste bezieht sich über viele Jahre. Queere Sportler:innen haben sich immer versteckt. Es gab immer welche. Auch Weltstars. Es sind viele großartige Persönlichkeiten dabei. Und es ist so bitter, dass es bislang keine Präsenz gibt. Auch bei der WM in Katar. Ich habe sie spielen sehen und dachte, wir haben keine Präsenz. Sie werden nicht gesehen. Das ist schade. Dann würden alle gleichzeitig sehen, es sind coole Typen. Die gehören mit dazu. Sie bereichern das Ganze. Sie machen es vielfältiger, bunter und interessanter. Man sieht da nicht nur Spielerfrauen, sondern Spielermänner auf der Tribüne. Man sieht Regenbogenfamilien im Stadion. Kinder und Jugendliche weltweit würden sehen, ich kann alles sein, was ich bin. Es ist egal, woher ich komme, wie ich aussehe, welche Behinderungen ich habe, wen ich liebe. Es geht darum, ein freies, selbstbestimmtes und glückliches Leben zu leben. Möglichst alles davon. Sich verheimlichen zu müssen, gehört nicht dazu. Deswegen wäre das Zeichen aus dem Sport super. 

Sports Illustrated: Wie sind Sie an die Namen der homosexuellen Fußballer herangekommen?

Urban: Die Coming-outs von mir und Thomas Hitzlsperger haben nicht dazu geführt, dass es weitere gab. Offensichtlich war das nicht kraftvoll genug für eine persönliche Entscheidung, die jeder für sich selbst trifft. Ich habe angefangen, das im Peer-Netzwerk zu streuen. Nach zwei Wochen kamen Anrufe von ersten Informanten. Es gab eine WhatsApp-Gruppe mit Spieler. Mittlerweile hat sich eine zweite WhatsApp-Gruppe gebildet. Ich bin dabei, das Netzwerk in England auszubauen mit Leuten, die sich gemeldet haben und sich dort verstecken. Also da passiert etwas. Es ist eine Dynamik entstanden. Ich habe dann angefangen, Recherche zu betreiben, Protokolle zu führen, um mir das alles zu merken. Es ist schon ein bisschen wie ein Leben in der Parallelwelt. Wenn ich Bundesliga schaue oder Premier League sehe, sehe ich die ganzen Spieler, die sich den Hintern aufreißen für ihr Team und keiner weiß, wer sie wirklich sind. Ich sehe queere Spieler, die ein Tor gemacht haben oder eine tolle Vorlage oder eine Grätsche. Wow! Und keiner weiß Bescheid. Wie schade. So lange die Spieler das nicht selbst können, übernehme ich das für sie zu sprechen. Die Informanten verstecken sich übrigens auch. Die Spieler und ihre Berater sind für so etwas nicht ausgebildet. Psychologische Behandlungen, Suizidgedanken, Depressionen, heimliche Treffen in Safe Spaces teilweise im Ausland, Scheinfreundinnen und Ehefrauen. Das ist kein Zuckerschlecken. 

Sports Illustrated: Warum haben sich bis auf Thomas Hitzlsperger vor zehn Jahren bisher nur wenige Fußballer getraut, ihre Homosexualität offen zu bekunden?

Urban: Weil sie da reingewachsen sind. Sie haben gemerkt, das sollte man nicht sagen. So darf man nicht sein. Dann haben sie sich daran gewöhnt, dass man das nicht sagt und haben sich eine eigene Welt aufgebaut, in der sie sich verstecken können. Das ist für sie ein Schutzschirm. Viele haben Angst, ihren Job und ihren Ruf zu verlieren und kein Geld mehr damit zu verdienen. In den Fußballkabinen geht es auch nicht zimperlich zu. Das sind Probleme, die uns zugetragen werden. Es ist nicht einfach, unter diesen Voraussetzungen zu bestehen. Klar, da arbeiten wir dran, dass es besser wird. In der 3. Liga gibt es nicht solche Sicherheitsvorkehrungen wie in der Bundesliga. Andere haben einen Migrationsuntergrund. Viele möchten sich diesen Ärger nicht geben. Aber es gibt keinen richtigen Zeitpunkt und es gibt auch keinen falschen. Es gibt nur eine Entscheidung. Es braucht ein bisschen Orientierung und einen guten Rahmen. Daran mangelte es lange Zeit.

Sports Illustrated: Sie sind Vorstand des Vereins für "Vielfalt in Sport und Gesellschaft" und haben die Kampagne "Sports Free" ins Leben gerufen. Welche weiteren Effekte erhoffen Sie sich neben der klaren Botschaft und Bekenntnis der Fußballer zu ihrer Homosexualität? 

Urban: Der Verein für "Vielfalt in Sport und Gesellschaft" ist die Körperschaft, die dahintersteht. Wir machen seit zehn Jahren Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit in Thüringen, Sachsen, Berlin und Bayern. Dabei geht es um Schlagwörter wie Selbstbestimmung, Freiheit, Glücklichsein und mentale Gesundheit. Die sind entscheidend für das Leben. Unsere Kampagne bezieht sich auf Liebe, Leidenschaft, Partnerschaft im Profisport und das Gruppen-Coming-out. Es ist egal, was du machst, wo du arbeitest, wo du bist, füll deinen Platz gut aus, mit dir selbst, dann ist alles okay. Ob jetzt Profisportler, Polizist oder Supermarktverkäufer. Das ist alles eigentlich. Ich bin okay, du bist okay. Das ist die Botschaft.

Marcus Urban
Marcus Urban
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Sports Illustrated: Hand aufs Herz: Denken Sie, dass die schwulen Fußballer nach ihrem Gruppen-Outing Anfeindungen und Beschimpfungen ausgesetzt sein werden?

Urban: Also ich gehe davon aus, dass Hate Speech kommt. Das ist eigentlich immer der Fall, das war bei Thomas Hitzlsperger der Fall und ich habe auch was abbekommen. Das ist das, was behinderte Menschen tagtäglich auf der Straße erleben oder Ältere, die Abwertungen erleben. Die meiste Diskriminierung passiert gegenüber behinderten Menschen und älteren Menschen. Das ist auch Teil des Ganzen, dass Leute warum auch immer versuchen, andere zu dissen und zu mobben. Auch im Profifußball passieren Diskriminierungen. Aber was ist mit den Leuten, die sich für dich einsetzen? Was ist mit den Leuten, die anderen im Stadion sagen, lass das sein, hör auf damit. So ein Quatsch, das gehört nicht hierher. Im Moment ist es so, dass sich Fußballfans im Stadion nur bedingt dafür einsetzen können, weil es keine öffentlich bekannten schwulen Fußballer gibt und somit keinen Bezugspunkt. Wenn jemand im Stadion Schwuchtel, schwule Sau oder schwuler Pass sagt, ja und? Da ist ja niemand schwul auf dem Platz. Somit haben wir einen Teufelskreislauf und der ist schlecht. Der muss durchbrochen werden und verwandelt werden in einen gesunden und aktiven Kreislauf.

Sports Illustrated: Wenn etwa zehn Prozent der Menschen homosexuell sind, müssten auch ein, zwei Spieler im DFB-Team schwul sein. Werden auch Namen deutscher Nationalspieler beim "Gruppen-Coming-out" auftauchen? 

Urban: Also queere Sportler sind überall in allen Nationalmannschaften dabei. Ich habe Namen von afrikanischen Spielern, Nationalspieler aus allen Ländern, der Bundesliga, der 3. Liga. Sie sind überall. Es ist zu erwarten, dass es kaum einen Verein, ohne queere Spieler gibt.

Sports Illustrated: Wird es auch Namen von bekannten Trainern geben?

Urban: Jeder kann diese Gelegenheit nutzen. In der Gruppe ist es einfacher, jeder kann sich melden und da einsteigen. Es ist ein Angebot. Man kann es annehmen oder auch nicht. Natürlich auch alle Trainer.

Sports Illustrated: Sie recherchieren seit 16 Jahren zu diesem Thema. Haben Sie Verständnis dafür, dass sich Ihnen bekannte Namen nicht dem „Gruppen-Coming-out“ anschließen?

Urban: Ja, dafür habe ich Verständnis. Jeder muss selbst für sich entscheiden. Das respektiere ich. Wenn manche noch nicht so weit sind, dann ist das so. 

Sports Illustrated: Warum ist es im Frauen-Fußball einfacher, sich zu outen? 

Urban: Ich denke sexuelle Orientierungen werden im Frauen-Fußball nicht so als Statussymbol gehandelt, also ob man jetzt eine heterosexuelle oder eine homosexuelle Frau ist. Das ist nicht so wichtig und entscheidend. Frauen gehen damit gelassener und selbstbewusster um. In Frauenstadien gibt es auch keine Hooligans. Es sind nicht so viele negative Konflikte da, wie im Männer-Fußball. Das macht es vielleicht leichter. Es gibt lesbische Paare beim FC Bayern München und in Wolfsburg. Es gibt auch schwule Männerpaare, die aber noch versteckt leben in der Bundesliga. Ich kenne welche und ich denke, dass das Männer auch können, was im Frauen-Fußball möglich ist. Alles, was es bei den Frauen gibt, gibt es bei den Männern. 



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