"The Greatest" - Wie Muhammad Ali seine ärgsten Kritiker zum Schweigen brachte
Am 25. Februar 1964 löste sich Cassius Marcellus Clay aus der Menge, die seine Ringecke umschwärmte und brüllte den Mitarbeitern der Presseabteilung zu. Clay hatte gerade Sonny Liston im Kampf um die Weltmeisterschaft im Schwergewicht besiegt, ein Ergebnis, das nur wenige Zeitungsleute vorhergesehen hatten. Die Sportkolumnisten Red Smith von der "New York Herald Tribune" und Dick Young von der "New York Daily News" sahen beide, wie Clay "wie ein Eichhörnchen auf das rote Samtband kletterte", so Smith’s Worte. Und sie hörten beide wie Clay rief: "Friss deine Worte. Eat your words." Niemand hatte je mehr recht gehabt, schrieb Smith über die Worte des Boxers. "Cassius hatte Liston aussehen lassen wie einen Elch, der durch einen Sumpf stapft." Young fügte hinzu: "Das war Cassius Clay, der vom köstlichen verbalen Siegeskuchen naschte, den er gerade für sich selbst zubereitet hat."
Am nächsten Morgen erklärte Clay seine Zugehörigkeit zur Nation of Islam und wurde damit sofort zu einer politisch polarisierenden Figur in den Vereinigten Staaten. Von da an änderte sich die Art und Weise wie Smith, Young und viele ihrer Kollegen über Clay berichteten drastisch.
"Die Pressekonferenz war eines der bemerkenswertesten Dinge, die ich je gesehen habe", erinnert sich Robert Lipsyte, ein langjähriger Kolumnist der "New York Times". "Dann, nach Liston, hatte die Presse keine Wahl mehr. Wir waren von der Geschichte gefesselt und mussten sie bis zum Ende verfolgen."
Da die Sportpresse jeden Schritt von Ali innerhalb und außerhalb des Rings verfolgte, spiegeln die Kolumnen von Smith und Young über den Boxer weitgehend eine Ära wider, die die Ansichten der Amerikaner über ihr Leben und die Gesellschaft in Frage stellte.
Der Sportteil galt traditionell als die Spielzeugabteilung der Redaktion, aber die Berichterstattung über den freimütigen Ali berührte oft Themen, die über den Boxsport hinausgingen und bot eine Perspektive auf den Zustand der Rasse, der Religion und des Vietnamkriegs in Amerika.
Muhammad Ali holte die Sportjournalisten aus der Komfortzone
Smith und Young besuchten beide viele der gleichen Kämpfe und arbeiteten im selben New Yorker Zeitungsmarkt. Sie waren wohl die berühmtesten Sportkolumnisten des Landes, die über den berühmtesten Athleten der Welt berichteten. Ihre Stile unterschieden sich jedoch deutlich. Einige Zeitgenossen betrachten Smith als einen der besten literarischen Sportjournalisten aller Zeiten. Seine anmutige Prosa verhalf ihm 1976 zum Gewinn des Pulitzer-Preises für allgemeine Kommentare, was unter Sportjournalisten bis heute eine Seltenheit ist. Der bekannte Magazin- und Zeitungsreporter Gay Talese bewarb sich nach seinem College-Abschluss bei der "New York Herald Tribune", weil Smith dort arbeitete und er der Meinung war, dass Red Smith mit die besten Texte von allen New Yorkern schrieb. "Er war wie der DiMaggio unter den Schriftstellern", sagte Bob Ryan, ein langjähriger Berichterstatter und Kolumnist beim "Boston Globe". "Man zögerte, sich ihm überhaupt zu nähern, allein schon wegen seiner legendären Statur."
Zur gleichen Zeit zwischen 1960 bis 1980 war Young vielleicht ebenso bekannt, wenn nicht sogar einflussreicher in der Sportjournalisten-Branche. Er war ein verbissener, bissiger Kolumnist und machte das Betreten der Umkleidekabinen und das Aufsuchen von Sportlern und Trainern zu einer Voraussetzung für seinen Job. In einem Profil des "Sport"-Magazins von 1985 charakterisierte Ross Wetzsteon den Schreibstil von Young: "Dick Young ist kein Autor, den Hallmark einstellen würde."
Er war einst der beliebteste Schreiber der meistverkauften Zeitung der Vereinigten Staaten. Und in der zweiten Hälfte der Karriere von Muhammad Ali, als Young das Trainingslager des Boxers betrat, erinnerte sich Lipsyte daran, dass der Boxer sagte: "Da’ist Dick Young. Der schlimmste Mann der Welt. Er hat immer wieder auf mich geschossen, aber er ist immer noch mutig genug, um hier hereinzukommen."
Young und Smith gehörten zu den einflussreichen Schreibern ihren Zeit. Ihre Meinungen zu Muhammad Ali waren zwar immer wieder gefragt, aber unbeständig.
Der Kampf der Weißen um die Aufrechterhaltung des Status quo und der Kampf der Schwarzen um gleichen Zugang und gleiche Chancen trieben die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre voran. Und so wurde 1964 der Kampf gegen die anhaltende Rassenunterdrückung zu einem wichtigen Teil des öffentlichen Diskurses.
Alis Taten und Worte holten einen Großteil der Sportpresse aus ihrer Komfortzone heraus. Seine Taten und Worte forderten Smith und Young - und damit die gesamte Sportpresse - heraus, über das Zusammenspiel von Rasse, Religion und Sport in Amerika nachzudenken.
Muhammad Ali "ist ein Angeber, aber das ist kein Verbrechen"
Als der Boxer an Bedeutung gewann, fühlte sich auch eine ältere Generation von Zeitungsmachern vom Fernsehen bedrängt, und viele gerieten mit einem der berühmtesten Fürsprecher Alis, Howard Cosell, aneinander. Das Fernsehen drängte Journalisten wie Smith und Young dazu, sich zu Themen außerhalb des Rings zu äußern, da sie sonst möglicherweise ihren Ruf verlieren würden, die relevantesten und aufschlussreichsten Stimmen ihrer Gemeinschaft zu sein.
In den vergangenen Jahren haben die Aktionen von Sportlern wie Colin Kaepernick in ähnlicher Weise Diskussionen über den Stellenwert von Politik und Herkunft im Sport ausgelöst. Aber Muhammad Alis Karriere zwang den Berufsstand der Sportjournalisten in den frühen 1960er Jahren, diese Überlegungen zu führen.
Alis Einfluss auf die Gesellschaft begann erst nach dem Liston-Kampf 1964, als er seine Zugehörigkeit zur Nation of Islam erklärte. "An diesem Tag sah ich die Geburt eines neuen Menschen", sagte der Boxer dem Autor Thomas Hauser. Es war, als wäre Cassius Clay am Ende und Muhammad Ali aufgetaucht. "Am Tag, nachdem er Liston besiegt hatte und verkündete, dass er Mitglied der Nation of Islam sei, war die Hölle los", erinnerte sich Jerry Izenberg, ein langjähriger Kolumnist des "Newark Star-Ledger". Clay wurde schnell zu einem Symbol für das bedrängte Amerika und die Sportjournalisten waren sofort gezwungen, sich an Gesprächen über Rasse, Religion und den Vietnamkrieg zu beteiligen.
Clay, über den im Vorfeld des Kampfes weitgehend wie über jeden anderen Aufsteiger berichtet wurde, sah sich sofort heftigen Gegenreaktionen ausgesetzt. Young schrieb über die Ankündigung des Boxers: "Er ist ein Angeber, aber das ist kein Verbrechen, sonst gäbe es nicht genug Gefängnisse. Die Schande daran ist, dass Clay von den schwarzen Muslimen benutzt wird, um für ihre Art der Hasspredigt zu werben." Smith äußerte sich ähnlich kritisch.
"Als das Land in den 1960er Jahren auseinanderbrach, konnte ich verstehen, wie Leute wie Red Smith oder Dick Young das übel nehmen konnten", sagte Dave Kindred, ein langjähriger Kolumnist beim "Louisville Courier", der "Washington Post" und der "Atlanta Journal-Constitution" sowie Autor von "Sound and Fury", einer Doppelbiographie über Howard Cosell und Muhammad Ali. "Das war nicht das Amerika, in dem sie aufgewachsen sind." Aber in Folge des Liston-Kampfes war es das Amerika, mit dem sie konfrontiert wurden.
Cosell wurde während der gesamten polarisierenden Karriere des Boxers zu einem entschiedenen Befürworter Alis, und der TV-Star scheute selten davor zurück, Themen jenseits des Rings anzusprechen.
Im Jahr 1966 unternahm Young einen kurzen Ausflug ins Fernsehen, indem er an der Seite von Cosell für die Football-Produktion von WABC arbeitete. Doch am Ende der Saison 1967 wurde der Sportkolumnist gefeuert. Cosell war als Smith-Fan aufgewachsen, doch der Moderator nannte Smith den "König der Komik" und "eingesperrt im Sport-Establishment".
In dieser Zeit änderte sich die Meinung über Muhammad Ali
"Das ist das Einzige, worin Smith und Young übereinstimmten", erinnerte sich Izenberg. "Sie hassten Howard Cosell."
Aber während Alis frühem Erfolg waren Smith und Young nicht so sehr im Sport-Establishment verhaftet, sondern eher in ihren Ansichten zur Nation.
Im November 1965 bereitete sich Ali auf einen Kampf mit Floyd Patterson vor. Gilbert Rogin von "Sports Illustrated" schrieb, dass Patterson die Aussicht Ali K.o. zu schlagen, als ein Mittel ansah, um "den Titel zurück nach Amerika zu bringen" - denn Alis Sieg über Sonny Liston nur wenige Monate zuvor wurde von einigen, einschließlich Smith und Young, als ein Sieg der schwarzen Muslime angesehen.
Und so waren Schriftsteller wie Young und Smith alles andere als begeistert von Alis Sieg in zwölf Runden. "Floyd Patterson wurde am Montagabend von einem praktizierenden Sadisten grausam bestraft", schrieb Smith. "Er spricht von der Güte und der Ganzheitlichkeit seiner Religion, aber es gibt keine Liebe für seine Mitmenschen in seiner Religion und es gibt keine Liebe in ihm", fügte Young hinzu.
Im Jahr 1967, als Ali sich weigerte der US-Armee beizutreten, schrieb Young: "Die schwarzen Muslime haben Cassius Clay in die Irre geführt. Sie haben ihn in Muhammad Ali umgetauft und ihm das Gefühl gegeben, Teil einer großen Sache zu sein, obwohl er in Wirklichkeit auch ohne sie eine große Sache ist." Und vor Alis Kampf gegen Joe Frazier im Jahr 1970 bezeichnete Young Ali als einen "Hassnamen" und schrieb an sein Massenpublikum in der Boulevardpresse: "Ich glaube nicht, dass Cassius Clay oder irgendjemand, der wie er denkt, gut für mein Land ist. Er ist für Separatismus. Er ist für den schwarzen Mann gegen den weißen Mann."
In dieser Zeit änderten sich Smiths Gedanken über den Boxer jedoch langsam.
Während Smith anfangs Alis Zugehörigkeit zur Nation of Islam kritisch gegenüberstand, begann der Tod von Smiths erster Frau und die darauf folgende zweite Ehe mit einer Frau, deren Tochter an den berühmten Protesten gegen den Vietnamkrieg im August 1968 in Chicago teilnahm, dem Schriftsteller die Augen für andere Sichtweisen zu öffnen. "Ich hatte den Eindruck, dass das, was er dort sah, und die Tatsache, dass er zum ersten Mal seit vielen Jahren einen jungen Menschen in seinem Leben hatte, Red dazu brachte, einige seiner Positionen zu überdenken", sagte Izenberg. Von diesem Zeitpunkt an benutzte Smith nicht mehr die Formulierung "ungewaschene Punks", um Anti-Kriegsdemonstranten zu beschreiben. Er nannte auch den Boxer nicht mehr "Cassius Muhammad Ali Clay", sondern "Muhammad Ali".
Anfang der 1980er Jahre hatte sich das Gespräch über Ali verändert. Das Fernsehen hatte die Sportjournalisten in gewisser Weise unter Druck gesetzt, aber auch Veränderungen im ganzen Land spielten eine Rolle, dass sich ihre Ansichten änderten.
Muhammad Ali öffnet der Gesellschaft die Augen
Zur gleichen Zeit waren viele der rassistischen Spannungen in Amerika, zumindest die gewalttätigsten, scheinbar gelöst oder vergessen worden, und die vorherrschende historische Erzählung über Ali befasste sich zu dieser Zeit ausschließlich mit seinem progressiven Aktivismus und seinem boxerischen Vermächtnis.
“In den 1980er Jahren begannen die Menschen zu vergessen, wie verschlagen und umstritten er war", sagte Lipsyte. Das Ergebnis war eine Rückkehr zu einer eher unpolitischen Berichterstattung.
Smith, der sowohl von seinem intensiven persönlichen Wandel als auch von den gesellschaftlichen Veränderungen betroffen war, äußerte im August 1979 wahre Ehrfurcht. "Nicht einmal Schachmeister halten 19 Jahre durch, und Schachmeister stecken keine Schläge ein", schrieb er und fügte hinzu, dass "nur ein außergewöhnlicher Sportler hätte tun können, was Ali tat. Nur ein außergewöhnlicher Mensch kann das gemeint haben, was er gemeint hat."
Auch Young, der einer der öffentlichsten Kritiker Alis war, änderte schließlich seine Meinung. "Ich habe nie einen besseren Kämpfer gesehen", schrieb er nach Alis Kampf gegen Larry Holmes 1980. Und ich habe nur wenige bessere Männer gesehen, ungeachtet unserer gelegentlichen politischen und religiösen Meinungsverschiedenheiten.
Youngs griesgrämige und konservative Haltung hatte scheinbar viele der Veränderungen in der Gesellschaft absorbiert oder akzeptiert. Die Bürgerrechtsbewegung und der Vietnamkrieg waren vorbei. Aller Wahrscheinlichkeit nach sah Young Ali nicht mehr als Bedrohung für die Gesellschaft an. Der Boxer brachte Youngs Vorstellung von Amerika nicht mehr durcheinander.
Ali war schwierig für die Berichterstatter, aber auch der Traum eines jeden Reporters. Er rief oft nach Reportern, um sicherzustellen, dass sie ihm zuhörten. Und wenn ein Reporter sich keine Notizen machte, erinnerte sich Kindred daran, dass Ali manchmal freiwillig aufhörte und wartete, bis der Reporter fertig war.
Man stellte ihm eine Frage und er redete zwei Stunden lang.
Aber abgesehen von Alis lebhaften Geschichten und seiner Zugänglichkeit half er vielen Sportjournalisten, ihre Augen zu öffnen. Mit Cosell an seiner Seite drängte Ali die Sportpresse dazu, sich nicht nur auf die Aktionen im Ring zu konzentrieren.
In unseren Tagen haben Colin Kaepernick, Martellus Bennett und viele andere ähnliche Diskussionen ausgelöst. Smith und Young sind beide nicht mehr da, aber viele Sportjournalisten ringen immer noch damit, wie sie solche Themen angehen sollen. Ihre Visionen von Amerika werden immer noch in Frage gestellt, und da sie mit dem Fernsehen konkurrieren, sind auch sie an eine Geschichte gebunden und müssen sie bis zum Ende verfolgen.
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