NFL

Phänomen "Taylor": Colts-Running-Back entkräftet ungeschriebenes NFL-Gesetz

Jonathan Taylor von den Indianapolis Colts gilt dank seiner starken Leistungen als MVP-Kandidat. Sein Trainer Frank Reich erklärt uns das Phänomen und seine Bedeutung für das Team.

Jonathan Taylor von den Indianapolis Colts
Jonathan Taylor von den Indianapolis Colts
Credit: Getty Images

Nach dem 41:15-Erfolg der Colts gegen sein altes Team hielt Frank Reich einen Spielball hoch und fragte seine Spieler: "Wie viele Touchdowns waren es? Können wir das gemeinsam schaffen?"

Eins! Zwei! Drei! Vier! Fünf!

Doch in der Euphorie hatte Reich glatt eine Sache vergessen. Es stellte sich heraus, dass er nur vier der fünf Touchdowns von Jonathan Taylor live gesehen hatte.

Reich verpasste den zweiten, und das aus gutem Grund. Bei diesem Spielzug, einem Second-and-5-Spielzug von der 23 der Bills, führte das Arbeitstier der Colts einen Play-Action-Fake aus.

Dabei stellte er sich einem Pass Rusher in den Weg, lief nach links zu Carson Wentz ins flache Feld und drehte sich dann ins Upfield auf. Unter Druck stehend warf Wentz kurz. Taylor reagierte, lief in die Innenbahn von Taron Johnson hinein, fing das Zuspiel an der 12 und stürmte auf die Goalline zu, wo Corner Tre'Davious White und Linebacker A.J. Klein schnell auf ihn zukamen.

Reich über unerwarteten Taylor-Touchdown: "Es hätte mich eigentlich nicht überraschen dürfen"

"Ich dachte, er würde zu Boden gehen. Ich habe sogar auf meinen Spielplan geschaut, um herauszufinden, welchen Spielzug ich als nächstes aufrufen würde, weil ich mir sicher war, dass er an der 1- oder 2-Yard-Linie zu Fall kommt", erklärt Reich.

Und weiter: "Ich dachte nicht, dass er reinkommen würde. Es sah auch nicht danach aus. Aber er hat einen Weg gefunden. Es hätte mich eigentlich nicht überraschen dürfen. Aber es sah nicht danach, dass er eine Chance hätte. Und im nächsten Moment signalisieren sie Touchdown."

Für seinen Trainer unterstreicht dieser Spielzug Taylors Wert für die Colts -  jenseits seiner beeindruckenden Zahlen. Und in gewisser Weise zeigt Taylor damit auch, dass ein altbekanntes Narrativ der NFL womöglich neu geschrieben werden muss. Jenes, das existiert, seit Mike Shanahan in den 90er Jahren 1.000-Yard-Rusher vom Fließband laufen ließ. Nämlich der Glaube, dass ein Star-Tailback ein Team nicht auf Meisterschaftsniveau heben kann. Denn Taylor ist gerade dabei, dies zu widerlegen.
Frank Reich
Frank Reich am Spielfeldrand
Credit: Getty Images
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Running Backs werden in der NFL spät gedraftet und weniger gut bezahlt 

Bisher spiegelt sich dieser bevorstehende Paradigmenwechsel allerdings noch nicht im Verhalten der Teams wider. Schließlich werden Backs oftmals spät gedraftet und weniger gut bezahlen. Was mit Sicherheit nicht an deren Qualität liegt. Vielmehr ist es die Überzeugung, einen adäquaten Ersatz relativ einfach finden zu können. Vor allem im Vergleich zu einem guten Corner, Left Tackle oder Edge Rusher.

Dabei manifestiert Taylor gerade einen neuen NFL-Prototyp für seine Position. Und zwar eine 225 Pfund schwere Schachbrett-Königin, die in der Lage ist, harte Yards zu machen und gleichzeitig wie ein Third-Down-Back im Passspiel zu agieren. Mit seinen Verdiensten stellt er das Altbekannte in Frage - und entfacht die Diskussion neu. Es drängt sich die Frage auf, inwieweit die alte NFL-Weisheit noch zeitgemäß ist. Schließlich sprechen seine fünf Touchdowns gegen die Bills eigentlich eine andere Sprache.

Dennoch wäre es falsch, Taylors Einfluss auf das Spiel nur an dieser Zahl festzumachen. Seine Bedeutung ist um vieles größer. Eine Spielszene steht sinnbildlich dafür. Bei ihrem dritten Down hatten die Colts gegen die Bills noch zwei Yards zu gehen, als Reich einen Inside-Lauf zu Taylor ansagte. 

Doch bereits kurz vor dem Snap sah es danach aus, als würde der Spielzug nicht zustande kommen. Denn Johnson, Buffalos Nickelback, hatte sich rechts von Wentz in die Box geschlichen, wodurch er für Receiver Michael Pittman nicht mehr zu blocken war.

Nach der Ballübergabe wartete Johnson bereits in der Lücke auf Taylor. Ein beinahe sicheres viertes Down, aber eben nicht mit Taylor. Er rutschte Irgendwie genau links an Johnson vorbei und stürzte sich für drei Yards und das erste Down. Acht Spielzüge später erzielte Taylor dann seinen ersten Touchdown und beendete damit einen elf Spielzüge und 65 Yards langen Drive, der die Colts Mitte des ersten Viertels mit 7:0 in Führung brachte.

Gamechanger Jonathan Taylor

"Er ist einer der wenigen Backs in der Liga, die einen First-Down-Lauf machen können", erzählt Reich. "Das kann das Spiel verändern. Dieser Spielzug hätte das Spiel verändern können. Er hat das mit einem Drei-Yard-Lauf geschafft. Es sind also nicht nur die 80-Yard-Läufe, die zeigen, wie großartig er ist. Manchmal ist es ein Drei-Yard-Lauf oder ein Third-and-One-Lauf, bei dem er diesen einen Yard erzielt - das ist es, was die großen Spieler tun."

"Auf die banalste Art würde ich sagen, es ist wie eine Superkraft. Es ist ein zusätzlicher Gang", erklärt Reich. "Es ist eine einzigartige Gabe, eine Kombination aus Größe, Stärke, Kraft und einer Vision."

Chris Ballard erkannte Taylors Klasse frühzeitig

Eine solche Mischung bahnte sich bei manchen Backs bereits zu Beginn ihrer NFL-Karriere an. Man erinnere sich an Todd Gurley, der nur wegen seiner Knieprobleme an zehnter Stelle gedraftet und später für die Rams zum wichtigsten Offensivspieler in einem Super Bowl-Team wurde. Oder Ezekiel Elliott, der als Vierter gepickt wurde und in der Folge zwei Rushing-Titel gewann und zum offensiven Dreh- und Angelpunkt zweier Playoff-Teams aufstieg.

Bei Taylor war die Ausgangslage allerdings weniger offensichtlich. Vielmehr zweifelten viele NFL-Experten an seinem Talent -  doch nicht General Manager Chris Ballard.

"Chris hatte schon lange vor allen anderen ein Auge auf Jonathan geworfen", sagt Reich. "Ich meine, jeder hat Jonathan geliebt. Aber Chris hat in Jonathan einen Superstar gesehen. Ich sage nicht, dass niemand sonst das gesehen hat, aber wenn man wirklich mit der Person sprechen will, die der Schlüssel zu der ganzen Sache war, dann ist es Chris. Er war vom ersten Tag an ein Fan von Jonathan Taylor, und als GM ist das natürlich eine ziemlich wichtige Sache."

Wie viel ist Jonathan Taylor den Colts wert?

Mittlerweile fliegt Taylor längst nicht mehr unter dem Radar. Sein Wert fürs Team ist unbestritten und stellt die Colts vor eine entscheidende Frage: Wie viel ist ihnen Taylor in Zukunft wert? Schließlich spielt er auf einer Position, die sich nicht gerade durch Langlebigkeit auszeichnet. Ein Blick nach Carolina legt das schonungslos offen. Christian McCaffrey kämpft seit seiner Vertragsverlängerung im Frühjahr 2020 mit Verletzungen. Sein Vierjahresvertrag kostet Carolina dennoch insgesamt 64 Millionen Dollar.

Natürlich gibt es auch gegenteilige Beispiele. Zumal das Gehalt eines Running Backs im Positionsvergleich oftmals gering ausfällt. McCaffrey verdient beispielsweise ein bisschen weniger als Brandin Cooks und Adam Thielen. Elliott und Kamara bekommen ungefähr so viel wie Carl Lawson und Trey Hendrickson. Nick Chubb aus Cleveland verdient etwas weniger als der Detroiter Pass Rusher Romeo Okwara. Ihre Bedeutung fürs Team ist jedoch ungleich höher. Aber wie ist die Gemengelage bei den Colts aktuell?

"Das Ziel des Spiels ist es, den Ball über die Linie zu tragen. Und wenn er das besser kann als jeder andere, ist das von enormen Wert", erklärt Reich vielsagend.