Boris Becker: "Was ich beruflich und privat erlebt habe, hält eigentlich keine Sau aus"
- Boris Becker im exklusiven Sports-Illustrated-Interview
- Boris Becker über Wimbledon-Sieg 1985, Karriere und Privates
- Becker: "Mein Innerstes war in schwierigen Zeiten mein Zufluchtsort
Es ist ein wolkenverhangener Donnerstag, an dem wir Boris Becker in Frankfurt am Main treffen. Als Ort hat er das Hotel „Roomers“ in Zentrumsnähe vorgeschlagen. Abends hat er noch eine Veranstaltung in der Stadt, tags darauf geht es weiter nach München. Becker checkt ein mit Rollkoffer und einer personalisierten Reisetasche der Marke Boss, „Boris the Boss“ steht darauf. Vor dem Interview verabreden wir uns zum Mittagessen im Restaurant im Erdgeschoss des Hotels. Becker trinkt Mineralwasser, wählt Guacamole mit Tortilla-Chips, Edamame und zum Hauptgang Hühnersuppe. Mit den Betreibern des Hotels ist er seit Jahren gut befreundet, einer der Inhaber begrüßt die Runde – und bringt Wodka-Gläser an den Tisch. L’Chaim, der hebräische Trinkspruch, auf das Leben. Becker stößt an, er trinkt nicht. Stattdessen ordert er zum Abschluss einen Espresso. Danach fahren wir mit dem Aufzug in den sechsten und höchsten Stock des Hotels. Der fürs Gespräch reservierte Konferenzraum trägt den englischen Namen „Gossip“ – „Klatsch“. Ein Gang auf die Dachterrasse, ein kurzer Blick über die regnerische Frankfurter Skyline. Dann: knapp zwei Stunden mit Boris Becker.
Sports Illustrated: Herr Becker, wir würden uns gerne mit Ihnen auf Zeitreise begeben, zurück ins Jahr 1985.
Becker: Sehr gerne.
Sports Illustrated: 7. Juli, das Wimbledon-Finale gegen Kevin Curren, Seitenwechsel beim Stand von 5:4 für Sie im vierten Satz. Wissen Sie noch, was Ihnen durch den Kopf ging?
Becker: Was genau, kann ich Ihnen nicht mehr sagen. Aber ich war nervös. Sehr nervös. Zum ersten Mal in diesem Match. Ich habe gespürt: Jetzt könnte sich etwas ändern.
Sports Illustrated: In Ihrem Leben?
Becker: Richtig. Ich wusste, wenn ich nur noch dieses eine Aufschlagspiel durchbringe, dann habe ich Historisches geschafft. Der jüngste Wimbledon-Sieger der Geschichte, der erste Deutsche, der erste Ungesetzte. Was das genau für mich bedeuten würde, das konnte ich nicht erahnen, aber ich fühlte, es wird etwas passieren.

Sports Illustrated: Dann fingen Sie gleich mit einem Doppelfehler an. Null-fünfzehn.
Becker: Und ich begann zu beten. Lieber Gott, gib mir einen ersten Aufschlag. Der kam auch, dann stand es 40:15, und ich machte den nächsten Doppelfehler. 40:30. Da gab es erneut ein Zwiegespräch mit dem Mann da oben. Und er schenkte mir einen Aufschlag-Winner zum Matchgewinn. Danach der Blick in die Box, zu meinen Eltern, Manager Tiriac, Trainer Bosch. Diese Freude und auch dieses Unverständnis, die ungläubigen Blicke, das werde ich nie vergessen.
Sports Illustrated: Hatten Sie in den Stunden nach dem Matchball auch mal Angst davor, was dieser Triumph mit Ihrem Leben machen würde?
Becker: Angst hatte ich nur vor dem feierlichen Empfang abends im „Savoy Hotel“ und dem obligatorischen Walzer der Sieger bei den Männern und Frauen. Mit der elf Jahre älteren Martina Navratilova zu tanzen, die tags zuvor schon ihren sechsten Wimbledon-Sieg gefeiert hatte, da hätte ich mich fürchterlich blamiert. Ich konnte ja gar nicht Walzer tanzen. Zum Glück erfuhr ich, dass diese Tradition im Vorjahr abgeschafft wurde. Na ja, und irgendwann bin ich ins Bett und einfach eingeschlafen.
Sports Illustrated: Ihr nächstes Turnier bestritten Sie erst vier Wochen später in Kitzbühel auf Sand. 3:6, 1:6 in der ersten Runde gegen Diego Perez aus Uruguay. Da warfen die Zuschauer Stühle und Sitzkissen auf den Platz.
Becker: Da ahnte ich schon, was es heißt, mit dem Druck des Wimbledon-Siegers zu leben.
Sports Illustrated: Was geschah in diesen vier Wochen?
Becker: Am Tag nach Wimbledon flog ich mit Ion Tiriac nach Nizza. Er buchte mich in einem Hotel am Strand ein und erzählte mir eine Woche lang, wie sich mein Leben nun für immer ändern würde. Dass mich Paparazzi auf Schritt und Tritt verfolgen würden, dass ich nicht mehr ungestört mit Mädels um die Häuser ziehen könnte, dass es in der Zeitung steht, wenn ich im Training meinen Schläger zerhacke. Und dass sich Klatschblätter über einen Fashion-Fauxpas belustigen, wenn ich mit schwarzen Schuhen und braunem Gürtel in ein Restaurant gehe. Oder so ähnlich. Ich habe damals nur gelacht, weil ich es nicht glauben konnte.
Sports Illustrated: Was sagen Sie heute?
Becker: Ion Tiriac hatte recht. Wie immer eben.
Sports Illustrated: Was würde der heute 57-jährige Boris Becker dem damals 17-Jährigen mit auf den Weg geben?
Becker: Würde es der 17-Jährige glauben, wenn ich es ihm jetzt mit 57 sage, was auf ihn zukommt? Ich war damals zu jung, um das alles zu verstehen und mir der Tragweite bewusst zu werden. Aber der 57-Jährige muss vielleicht auch gar nicht so viel erklären, der 17-Jährige hat in den folgenden 40 Jahren ja nicht alles falsch, sondern auch vieles richtig gemacht und gute Entscheidungen getroffen.
Sports Illustrated: War es ein Problem, dass der Sportler Boris Becker in seiner Reife der Entwicklung des Menschen damals viel zu weit voraus war?
Becker: Im Nachhinein ist es vielleicht mein größter Sieg, dass ich nicht daran zerbrochen bin. Zwangsläufig musste ich nach meinem ersten Wimbledon-Sieg sehr schnell erwachsen werden. Ich musste mich wehren, kämpfen und lernen, mein eigenes Ding durchzuziehen. Sehr prägend dabei war das Jahr 1986. Ich reiste als Titelverteidiger nach Wimbledon, die Chancen auf einen Erfolg waren noch viel aussichtsloser als im Jahr zuvor. Ich hatte in dem Jahr erst ein Turnier gewonnen, im März in Chicago in der Halle.
Sports Illustrated: Und selbst Tiriac und Bosch sagten vor Wimbledon: Sei nicht traurig, Junge, aber das wird in diesem Jahr nichts. Selbst das engste Umfeld glaubte nicht an Sie?
Becker: Richtig. Das Problem war, dass ich mich das halbe Jahr zuvor nach den Anweisungen der beiden gerichtet hatte. Wie ich wann was zu trainieren hätte. Heute Aufschlag, morgen Volley, übermorgen Rückhand. Die wollten, dass ich einen Trainingsplan absolviere, von dem ich nicht überzeugt war. Ich war topfit und austrainiert, aber ich habe das Tennis nicht mehr gespürt. Das Bauchgefühl hat nicht mehr gestimmt. Ich habe mich nicht mehr wiedererkannt auf dem Platz. Also habe ich vor Wimbledon 86 gesagt: In den nächsten zwei Wochen machen wir alles, wie ich es mir wünsche. Danach rechnen wir ab.
Sports Illustrated: Und dann gewannen Sie den Titel. War der Sieg 1986 ein wichtigerer Erfolg als der im Jahr davor?
Becker: Absolut. Als 18-Jähriger den Titel zu verteidigen, das war etwas viel Größeres, als im Alter von 17 erstmals zu gewinnen. Das war meine Reifeprüfung, als ich zum ersten Mal realisiert habe: Wenn es hart auf hart kommt, kann ich mich auf mich selbst verlassen. Ich gewann 1986 noch vier weitere Turniere, war die Nummer zwei der Welt, was vor mir auch noch keinem in diesem Alter gelungen war.

Sports Illustrated: Sie sprachen vorhin vom Bauchgefühl. Würden Sie sich eher als Bauch-Menschen denn als Kopf-Menschen einschätzen? Überwiegen bei Ihren Entscheidungen die Gefühle oder der Verstand?
Becker: Ich habe mal den Satz gesagt: Ich habe in all den Jahren gelernt, meine Emotionen zu rationalisieren. Das trifft es ganz gut. Also dass du weißt, wie du deine Gefühle verarbeitest. Ich bin immer noch sehr nah dran an meinen Emotionen, weiß aber heute, was ich daraus machen muss.
Sports Illustrated: Wie wichtig sind Emotionen überhaupt? Könnte man Wimbledon nicht auch nur rational gewinnen?
Becker: Auf gar keinen Fall. Emotionen sind die wichtigste Grundlage, in Wimbledon und im Tennis überhaupt. Mit Emotionen bist du noch dynamischer, entschlossener und noch schwerer zu schlagen. Viele Spitzenspieler scheinen mir heute eher Angst vor ihren Emotionen zu haben, weil sie es gleichsetzen mit Emotionalität. Weil sie glauben, es könnte sie anfällig und verwundbar machen. Ich sehe das anders. Wenn du nah am Herzen gebaut bist, dann macht es dich nur stärker. Und wenn du überzeugt bist von deinem Handeln. Das war die Maxime, die mir meine Eltern mitgegeben haben.
Sports Illustrated: War die Erziehung ein wichtiges Fundament für Ihre erfolgreiche Karriere?
Becker: Ja, und ganz trivial gesprochen: Ohne die Grundwerte, die mir meine Eltern vermittelt haben, wäre ich kein guter Sportler geworden und auch kein vernünftiger Mensch. Sie haben mir schon früh gesagt, ich solle mich und meine Persönlichkeit nicht über den Sport definieren. Ich bin kein besserer Mensch, wenn ich Wimbledon gewinne. Und kein schlechterer, wenn ich in Kitzbühel in der ersten Runde rausfliege.

Sports Illustrated: Welche Rolle spielte die Disziplin in Ihrer Erziehung?
Becker: Eine ganz große. Ich wurde sehr konservativ und sehr streng erzogen, allein was Pünktlichkeit anging. Um 18.30 Uhr gab es bei uns immer Abendbrot. Kam ich erst um 18.45 Uhr heim, war nichts mehr zu essen da. Würde ich das heute meinen Kindern so sagen, würden sie sich kaputtlachen und bei Uber Eats bestellen. Pünktlichkeit, Disziplin, das hat mir gerade mein Vater mitgegeben. Auch ich hatte viele schlechte Tage, in meiner Karriere, in meinem Leben. Aber ich versuchte, immer zu funktionieren, meine Aufgaben zu erledigen. Heulen konnte ich dann auch noch am Abend, wenn ich wieder allein in meinem Zimmer war.

Sports Illustrated: Sie sprachen davon, nicht zerbrochen zu sein. Gab es Momente, in denen Sie kurz davor waren?
Becker: Natürlich. Was ich beruflich und privat erlebt habe, das hält eigentlich keine Sau aus. Gerade die Behandlung durch die deutschen Medien war beispiellos. Ich habe es überlebt – und bin dadurch vielleicht noch stärker zurückgekommen. Dass es mich mit 57 noch gibt, überrascht mich selbst und ist für mich wie ein weiterer Wimbledon-Sieg.
Sports Illustrated: Was war denn der allerkritischste Moment?
Becker: Sagen wir so, es gab sehr viele kritische Phasen. Die erste war kurz nach dem Ende meiner Karriere, verbunden mit der Frage: Was machst du jetzt mit deinem Leben? Ich brauchte eine Aufgabe, um morgens aus dem Bett zu kommen. Drei Jahre hing ich durch, bis ich mit 35 das Fernsehen entdeckte und Analyst, Kommentator und Moderator wurde.
Sports Illustrated: Mit 16 wurden Sie Profi. Haben Sie trotzdem bis zum Alter von 31 gespielt, weil Sie Angst vor dem Danach hatten?
Becker: Ich bin kein Typ, der Angst hat, dabei wäre das manchmal besser für mich und mein Leben. Aber: Nein, wäre es nach mir gegangen, hätte ich viel früher aufhören wollen. Ich hatte alles gewonnen, was ich gewinnen wollte. Und wenn du zum siebten Mal im Wimbledon-Finale stehst, dann weißt du, wie es geht. Das hat mich emotional nicht mehr gepackt. Eigentlich war ich mit Mitte 20 am Ende und hatte keine Motivation mehr.

Sports Illustrated: Wer hat Sie daran gehindert, aufzuhören? Das Management?
Becker: Sie hätten doch auch mit 25 sagen können: Schön war’s, aber jetzt beende ich die Karriere. Habe ich aber nicht. Das Management, die Berater, die Trainer, die wussten von meinen Gedanken und meinten nur: Bist du wahnsinnig, du hast Verträge, du bist in den Top 10, du kriegst Millionen. Deswegen habe ich mich breitschlagen lassen, weiterzuspielen. Nach meiner Viertelfinal-Niederlage gegen Sampras in Wimbledon 1997 nahm ich Abschied von den Grand Slams – bis ich es 1999 noch einmal wissen wollte und mein letztes Wimbledon spielte.
Sports Illustrated: Nach der klaren Achtelfinal-Niederlage gegen Pat Rafter beendeten Sie die Karriere dann endgültig. War es Ihnen wichtig, in Wimbledon aufzuhören?
Becker: Es war schon als Kind mein Lieblingsturnier. Borg war mein Idol, weil er Wimbledon gewann. Und es war meine sportliche Geburtsstätte. Wimbledon hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin.

Sports Illustrated: Sie nannten Wimbledon immer Ihr Wohnzimmer. Ist es auch Heimat?
Becker: Ja, es ist auch ein Stück Heimat. Eine Wohlfühloase. Auch nach meiner Karriere, wenn ich zurückkam, ob als Trainer oder als Journalist: Ich wurde immer als Freund des Hauses behandelt. Wimbledon war für mich immer wie Weihnachten. Die schönste Zeit des Jahres. Ich habe zehn Jahre in Wimbledon Village gewohnt, mein Sohn Amadeus ging dort in den Kindergarten, ich kenne den Bäcker, den Metzger und auch den Milchmann, den es dort immer noch gibt. Wenn ich als Sportler ein Zuhause habe, dann ist es Wimbledon.
Sports Illustrated: Noch einmal zurück zu 1985: Sie hatten sich im Achtelfinale gegen Tim Mayotte am Fuß verletzt und waren schon Richtung Netz unterwegs, um Ihrem Gegner zum Sieg zu gratulieren. Tiriac rief Ihnen zu, ein Timeout zu nehmen und sich vom Physio behandeln zu lassen. Nach einer 15-minütigen Verletzungspause ging es weiter – mit einem guten Ende für Sie. Wäre Ihr Leben anders verlaufen, wenn Sie aufgegeben hätten?
Becker: Bestimmt. Viele Probleme, die ich danach bekam, hätte es nicht gegeben. Der jüngste Wimbledon-Sieger aller Zeiten, das brachte viele Vorteile, aber auch Nachteile. Für meine Gesundheit, für mein Leben wäre es besser gewesen, hätte ich Wimbledon erst später gewonnen, mit 21 oder 22 und nicht schon mit 17 und 18.
Sports Illustrated: Können Sie das näher begründen?
Becker: Weil ich dann nicht mehr das Wunderkind gewesen wäre, als das mich die Leute noch immer sehen. Ob im Beruflichen oder privat, ich werde für viele mein Leben lang immer nur der 17-jährigste Leimener sein. Und das werde ich wohl nicht mehr ändern können.
Sports Illustrated: Hätten Sie Wimbledon später gewonnen oder vielleicht auch nie, hätten Sie ein viel ruhigeres und unbeobachtetes Leben in einer weitgehenden Anonymität führen können?
Becker: Es war immer die Erwartung da, der Druck. Ah, der Boris, der hat mit 17 Wimbledon gewonnen, jetzt muss er das nächste Turnier doch auch gewinnen. Immer bewertet und gemessen zu werden an diesem Sieg 1985, das war enorm anstrengend. Ich konnte nicht einfach mal ausbüxen mit meinen Freunden, mich ein Vierteljahr irgendwohin absetzen. Ich wurde immer beurteilt und verurteilt, musste stets liefern, spielte immer meine 18 bis 22 Turniere im Jahr. Das war Raubbau am Körper und tat meiner Gesundheit sicher nicht gut.
Sports Illustrated: Fühlten Sie sich manchmal auch einsam – gerade in jenen Zeiten, in denen Sie beurteilt und verurteilt wurden? Auch in jenen Phasen nach der Karriere, in denen immer wieder Häme und Spott auf Sie einprasselten?
Becker: Allein war ich nie. Aber oft von den falschen Personen umgeben. Ich hatte nicht immer die besten Freunde um mich herum. Im Nachhinein ist man immer klüger. Als Tennisspieler habe ich meines Erachtens meistens die richtigen Entscheidungen getroffen. Nach der Karriere war das nicht mehr so. Vieles würde ich heute anders machen.
Sports Illustrated: Was zum Beispiel?
Becker: Beruflich wie privat, ich will da nichts ausdrücklich hervorheben. Das ging schon los mit der Wahl meines Wohnsitzes. War London wirklich der richtige Ort für mich? Oder hätte ich in Mitteleuropa bleiben sollen? Ich hatte auch immer einen Hang nach Amerika. Belassen wir es einfach dabei: Viele private und berufliche Entscheidungen würde ich heute anders treffen.
Sports Illustrated: Sie sagten einmal, jetzt mit Mitte 50 müssten Sie sich nicht mehr verbiegen. Mussten Sie das früher?
Becker: Ja. Man hatte mir oft nachgesagt, ich sei beratungsresistent, dabei war genau das Gegenteil der Fall. Ich habe mir oft in meine beruflichen und privaten Entscheidungen reinreden lassen, mach dies und jenes. Die vielen falschen Ratschläge, auf die ich hörte, waren gerade nach meiner Karriere ein Problem.
Sports Illustrated: Wussten Sie nicht, dass es falsch ist? Oder trauten Sie sich nicht, etwas dagegen zu sagen?
Becker: Wenn du als Profi über 15 Jahre diszipliniert leben und performen musst, kommst du nach der Karriere in eine Komfortzone. Man muss sich nicht mehr beherrschen, darf mehr essen als früher, trinkt vielleicht gerne auch zu viel Wein, macht weniger Sport, wird fauler. Wird nachlässiger mit sich selbst. Und dann wird man auch bei den Entscheidungen nachlässiger und guckt nicht mehr so genau hin, was im Vertrag im Kleingedruckten steht, und glaubt stattdessen das, was der Anwalt sagt. So geriet ich in einen Strudel, einen Treibsand und wurde mit jeder Umdrehung weiter nach unten gezogen. Gemerkt habe ich es erst ganz am Schluss. Aber da war es schon zu spät.
Sports Illustrated: Ganz unten waren Sie 2022, als Sie in der Folge des Insolvenzverfahrens gegen Sie zu einer Haftstrafe verurteilt wurden. Im Herbst erscheint Ihr Buch über diese Zeit, die Sie kürzlich als „eine der schmerzhaftesten Erfahrungen meines Lebens“ bezeichneten. Haben Sie die 231 Tage im Knast mehr geprägt als die 15 Jahre als Tennisprofi?
Becker: Jede Krise, die ich in meinem Leben überlebt habe, war positiv, ich habe immer mehr aus meinen Niederlagen gelernt als aus meinen Siegen. Das war aber sicher eine sehr existenzielle Krise, in der es wichtig war, zu mir zurückzufinden. So wie vor Wimbledon 1986. Da war ich in einer sportlichen Krise und beschloss, das zu tun, was ich für richtig halte. Das hatte Erfolg. Auch in jener Zeit in Haft fand ich wieder zu mir. Es blieb mir ja nichts anderes übrig. Wenn du alles verlierst, deine Freiheit, deine Familie, dein Geld, dein Haus, ist das Einzige, was übrig bleibt, deine Persönlichkeit, dein Charakter. Und darauf habe ich mich zurückgezogen. Mein Innerstes, das war in schwierigen Zeiten schon immer mein Zufluchtsort.
Sports Illustrated: War diese existenzielle Krise auch eine Katharsis, eine Reinigung von all dem, was sich in den letzten Jahrzehnten angesammelt hatte? Um all den Ballast abzuwerfen und einen Neustart zu wagen?
Becker: Katharsis ist das treffende Wort. Ich bin auch sicher besser gewappnet als noch vor 20 Jahren, was falsche Freunde und Schmarotzer angeht. Ich habe ein besseres Umfeld, das mich schützt. So schnell kommt keiner mehr ran an mich. Man kann es einen Restart nennen.
Sports Illustrated: Das klingt doch so, als hätten Sie sich neu erfunden. Gibt es, um es mal im Marketing-Sprech zu formulieren, die neue Marke Boris Becker?
Becker: Ja – und nein, es gibt keinen ganz neuen Becker. Alles, worüber ich jetzt spreche und wie ich bin, resultiert aus den Erfahrungen der letzten vier Jahrzehnte. Und so schlecht war der alte Becker doch auch nicht. Hätte ich keine Erfahrungen gemacht, könnte ich Ihnen gar nichts erzählen. Dann würden wir hier schweigend sitzen. Dann würden Sie mich wahrscheinlich gar nicht interviewen wollen. Es ist einfach ein langer Weg, den ich gegangen bin. Vielleicht kehre ich nun wieder mehr zur Authentizität zurück, zu meiner Kernkompetenz, dem Tennis. Da kenne ich mich am besten aus. Tennis wird immer meine große Liebe sein, solange ich lebe.

Sports Illustrated: Deswegen haben Sie mit der renommierten Agentur Sportfive ein neues Management, schlossen in Folge eine neue Partnerschaft mit dem Online-Tennisshop Tennis-Point, haben einen Podcast zusammen mit Andrea Petkovic und sind weiter Kommentator und Moderator bei Eurosport?
Becker: Ja, da kann ich überall meine Expertise einbringen, deswegen wird es jetzt mehr und mehr Kooperationen geben, auch auf globaler Ebene. Ich denke, das ist auch sinnvoll, weil man mich nach wie vor auf der ganzen Welt kennt und respektiert. Aber ich gehe heute nur noch Dinge an, von denen ich überzeugt bin, dass ich sie kann. Und ich bin vorsichtig mit Angelegenheiten, von denen ich keine Ahnung habe. Da halte ich lieber die Klappe und lasse die anderen machen. Das ist mein Learning der letzten Jahre.
Sports Illustrated: Fehlt bei all der Beschäftigung nicht auch das Adrenalin vom Tennisplatz? Haben Sie nie diese Druckmomente vermisst, unter denen man Höchstleistung bringt?
Becker: Druck empfinde ich noch immer. Im TV-Studio, wenn das rote Licht angeht. Das ist eine Drucksituation. Da musst du liefern und musst konzentriert sein, ganz bei dir, da darfst du dir keinen Fehler erlauben. Das ist fordernd, gleichzeitig brauche ich diese Challenge auch. Ich bin ein Workaholic. Würde ich nicht arbeiten, wäre mir langweilig. Ich liege schon auch gern mal auf der Couch und schaue Bayern gegen Leverkusen. Auf Dauer aber ist das nichts.
Sports Illustrated: Als Jannik Sinner im Finale der Australian Open zum Matchgewinn aufschlug, sagten Sie, dass er womöglich den Ball nicht mehr so hoch werfen würde, weil ihm nun der Arm schwer würde. Fühlen Sie sich da noch in die Situation des Spielers hinein?
Becker: Auf jeden Fall. Ich versuche, das zu analysieren, was ich selbst empfunden habe und was möglicherweise wieder eintritt. Deswegen habe ich ja auch diesen Job angeboten bekommen: weil ich etwas rüberbringe, was sonst keiner wissen kann. Wenn du nie bei einem Grand Slam zum Titelgewinn aufgeschlagen hast: Wie willst du nachempfinden, wie es einem dabei geht?

Sports Illustrated: Können Sie sich noch einmal einen Job als Trainer vorstellen?
Becker: Dass ich mit einem Spieler Woche für Woche von einem Turnier zum nächsten fliege, das ist ausgeschlossen. Das ist ein hartes Leben, das habe ich lang genug gemacht, das brauche ich nicht mehr. Was ich mir vorstellen kann, ist eine Art Mentor, ein Supervisor für einen jungen Spieler zu sein bei ausgewählten großen Turnieren. Einfach weil ich es kann, weil ich weiß, wie es funktioniert, weil ich alle Facetten dieses Sports erlebt habe.
Sports Illustrated: Spielen Sie manchmal noch selbst?
Becker: Nein. Also doch, hin und wieder mit meiner Frau, die den Tennissport für sich entdeckt hat. Am Wochenende, wenn wir zu Hause sind, gebe ich ihr Trainerstunden. Oder wenn meine älteren Söhne mal spielen wollen, dann gerne.
Sports Illustrated: Wie hat sich der Tennissport in den vergangenen 40 Jahren verändert?
Becker: Gar nicht so sehr. Die Zählweise ist noch die gleiche, es geht in Wimbledon immer noch bis drei Gewinnsätze, nur dass es im fünften Satz einen Tiebreak gibt, ist neu. Ein großer Unterschied ist, dass es die Spieler heute viel komfortabler haben. Das beginnt im medizinischen Bereich: Wenn wir früher ein Ziehen im Oberschenkel hatten, waren wir still und haben weitergekämpft. Sonst warst du ein Weichei. Heute rennt sofort der Arzt auf den Platz und behandelt dich. Oder auch die Schirme beim Seitenwechsel. Früher saßt du in der prallen Hitze und hast auch mal einen Sonnenstich riskiert.

Sports Illustrated: War das Spiel damals besser?
Becker: Ach, die alte Frage. Wir hatten früher schon eine verdammt gute Technik. Jeder konnte aufschlagen, einen Volley, einen Rückhand-Slice und ans Netz gehen. Das können heute nicht mehr alle. Noch ein Unterschied: In meiner Generation gab es mehr Spieler, die ein Grand-Slam-Turnier gewinnen konnten und gewonnen haben. Die Weltspitze war viel breiter, vor jedem Turnier gab es 15, 20 Kandidaten, die an guten Tagen jeden schlagen konnten. Und die letzten 25 Jahre? Federer, Nadal, Djokovic, jetzt Sinner, Alcaraz und Zverev. Ich frage mich immer: Sind die da vorne wirklich so außergewöhnlich gut? Oder ist der Rest eben nicht ganz so gut? Die Antwort liegt irgendwo dazwischen.
Sports Illustrated: Sind Sie jetzt angekommen im Leben? Sind Sie endlich da, wo Sie sein wollen?
Becker: Ich glaube, dass ich jetzt wieder eine sehr gute Phase habe. Ja, ich bin privat angekommen, aber auch beruflich. Ich ging durch ein tiefes Tal der Tränen, jetzt geht es mir gut. Und deswegen versuche ich, meine Entscheidungen noch vorsichtiger zu treffen als früher. Denn das, was ich erlebt habe, möchte ich nicht noch einmal durchmachen. Das wünsche ich meinem schlimmsten Feind nicht, aber mir am allerwenigsten. Angekommen bin ich sicher auch in meinem neuen Lebensmittelpunkt in Mailand, in Italien.
Sports Illustrated: Woher kommt die Liebe zu Italien?
Becker: Mit meinen Eltern war ich schon als Kind immer an der Adria im Urlaub. Rimini, Milano Marittima, jeden Sommer fuhren wir mit dem Auto dorthin. In meiner Karriere hatte ich einen großen Bezug zum Land, auch wegen meiner Ausrüsterpartner, da kamen viele aus Italien. Dazu war ich immer schon großer Fan des AC Mailand, Paolo Maldini und Ruud Gullit waren auf meiner Hochzeit. Außerdem liebe ich Mafia-Filme mit Marlon Brando, Al Pacino, Robert De Niro. Erst kürzlich habe ich wieder „Der Pate“ gesehen, dritter Teil.

Sports Illustrated: Was gefällt Ihnen an der italienischen Mentalität?
Becker: Vor allem, dass das Wochenende heilig ist. In London oder München, da war es egal, da hast du auch Samstag und Sonntag Geschäfte machen können. In Italien geht das nicht. Da gibt es am Wochenende nur drei Dinge: Familie, Fußball, Kirche. Das gefällt mir sehr gut.
Sports Illustrated: Gehen Sie auch in die Kirche?
Becker: Ja. Wir leben in Mailand ganz in der Nähe vom Dom. Wenn ich dort bin, gehe ich jeden Tag dorthin, mache meine drei Gebete und gehe wieder heim. Dann geht es mir besser. Ich war schon als Junge Messdiener in Leimen, römisch-katholisch. Ich würde mich nicht als religiösen Menschen bezeichnen, denn im Namen von Religionen ist viel Unrecht geschehen. Aber ich nenne mich einen Christen. Der Glaube hat bei mir schon immer eine große Rolle gespielt und hat mir über viele kritische Momente hinweggeholfen. Ob beim Wimbledon-Finale 1985 oder später in den schwierigen Phasen meines Lebens.
Sports Illustrated: In welcher Sprache beten Sie? Deutsch, Englisch, Italienisch?
Becker: Meine Hauptsprache ist weiter Englisch, mit meiner Frau wie auch mit meinen Kindern. Ich träume auch immer noch auf Englisch. Aber wie Sie merken, spreche ich auch immer noch flüssig Deutsch und komme mit den beiden Sprachen ganz gut zurecht. Mit dem Italienischen hinke ich noch etwas hinterher.
Sports Illustrated: Bei all der Kritik, die Sie in Deutschland in den letzten vier Jahrzehnten erfahren mussten: Haben Sie in der Zwischenzeit wieder Frieden mit Ihrem Heimatland geschlossen?
Becker: Wie viele Stunden haben Sie Zeit?
Sports Illustrated: Sehr viele.
Becker: Ach, das ist ein abendfüllendes Thema. Sagen wir mal so: Wir waren uns nicht immer grün. Aber ich gebe uns noch eine Chance. Ich hoffe, für den Rest meines Lebens respektvoller behandelt zu werden, dass man meine Lebensleistung als bester deutscher Tennisspieler der Geschichte mehr würdigt als bisher. Das habe ich mir erarbeitet, das würde ich mir wünschen. Ich bin Patriot, habe einen deutschen Pass und habe immer gerne für das Land gespielt. Nur stieß das gerade von medialer Seite nicht immer auf Gegenliebe, auch wenn sich das im vergangenen Jahr gebessert hat. Ich möchte noch mal die Hand ausstrecken. Vielleicht wird’s ja noch was.
Sports Illustrated: Das hört sich an, als sehnten Sie sich danach, dass Ihre Liebe zum Land erwidert wird.
Becker: Es ist mir zumindest wichtig, weil es mein Heimatland ist. Und wenn die Nationalmannschaft spielt, wie im März in Mailand, dann bin ich der größte Fan. Wäre schön, wenn wir uns versöhnen könnten.

Sports Illustrated: Wird Mailand Ihr Mittelpunkt bleiben?
Becker: Ich wüsste nicht, warum ich jemals wegziehen sollte. Meine Frau und ich fühlen uns dort sehr wohl.
Sports Illustrated: Wie ist das Verhältnis zu Ihren Kindern?
Becker: Sehr gut. Drei sind ja schon erwachsen, das sind alles mündige Bürger. Sie haben ihre eigene Meinung über Politik, Sport, Musik, ihren Vater und ihre Mutter. Dass sie eigenständige Menschen sind, finde ich sehr gut. Wir sind nicht immer einer Meinung, aber so wie sie meine Ansichten erdulden müssen, so respektiere ich auch ihre Haltung.
Sports Illustrated: Im November vergangenen Jahres verstarb Ihre Mutter Elvira. Welchen Bezug haben Sie nach ihrem Tod noch zu Ihrem Heimatort Leimen?
Becker: Leimen ist meine Geburtsstätte, dort bin ich groß geworden und habe die ersten 15 Jahre meines Lebens glücklich verbracht. Aber seit dem Tod meiner Mutter komme ich nicht mehr so oft dorthin. Ich werde sicher immer mal wieder das Grab meiner Eltern auf dem Friedhof besuchen. Aber ein Zuhause ist Leimen nicht mehr. Ein Einschnitt, den ich sicher noch nicht verkraftet und verarbeitet habe. Ich bin sehr gespannt, wie ich damit umgehen werde. Auch mit der Situation, dass ich jetzt, da es meine Eltern nicht mehr gibt, selbst die Generation bin, die als Nächstes an der Reihe ist. Ich bin 57 und spüre, dass ich in der zweiten Hälfte meines Lebens bin.
Sports Illustrated: Haben Sie Angst vor dem Altern?
Becker: Das nicht. Aber ich stelle mir schon die Frage, wie lange es noch geht. Und auch die älteren Kinder merken langsam: Ewig haben wir unseren Vater auch nicht.
Sports Illustrated: Übertragen aufs Tennis: Im wievielten Satz sind Sie denn?
Becker: Also im fünften noch nicht. Ich würde sagen: Im vierten – und da geht es gerade in die entscheidende Phase.
Sports Illustrated: Und wie steht’s?
Becker: Ich bin ein Break vorne. Vorteil Becker. Ich habe wieder ganz gut ins Spiel zurückgefunden.
Mit dem Sports Illustrated-Chefredakteurs Newsletter erhalten Sie aktuelle Sport-News, Hintergründe und Interviews aus der NFL, der NBA, der Fußball-Bundesliga, der Formel 1 und vieles mehr.
Mehr Sport-News
Die NFL-Saison 2024/25 läuft bei verschiedenen Anbietern live im TV und Livestream. Welches NFL-Abo kostet wie viel? Wie viele NFL-Spiele laufen im Free-TV? Sportsillustrated.de hat alle Informationen für Euch, wo Ihr alle Spiele sehen könnt.
Der Spanier Lamine Yamal gilt als größtes Fußball-Versprechen der Zukunft. Der 16-Jährige bricht einen Rekord nach dem anderen. Beim FC Barcelona kann sich Trainer Hansi Flick freuen, so einen Spieler zu haben. Alles zu Karriere, Titel, Gehalt, Vermögen und Privates.
Zehn Jahre nach dem schweren Skiunfall von Michael Schumacher am 29. Dezember 2013 fragen sich alle Formel-1-Fans weiterhin, wie es ihrem Idol geht. Schumacher-Anwalt Felix Damm erklärt, warum es keine Nachrichten zum Gesundheitszustand von Schumi gibt.