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WWE-Star Gunther: So gelang ihm der Aufstieg zum World Champion

Vom Nischensport zum globalen Phänomen: Wrestling ist mit seinem Mix aus Show und Sport so populär wie nie – und hat mit „Gunther“ seinen ersten deutschsprachigen Weltmeister. Ein Blick hinter die Kulissen des Hypes.

Deutscher Wrestling-Weltmeister Gunther während eines Kampfes
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Mit zwei schweren Hieben durchschneiden Streichinstrumente das Klatschen der Zuschauer. Die Lichter in der Halle gehen aus, Jubel in der Dunkelheit. Die wuchtigen, dunklen Striche von Celli und Bässen schwellen an, werden lauter, schneller. Violinen setzen ein und kündigen eine Bedrohung an. Unheil naht.

Kurz bevor der Spannungsbogen des 4. Satzes der 9. Sinfonie von Antonín Dvořák mit Blechinstrumenten entfesselt wird, leuchten die Bildschirme der Bühne strahlend weiß. Die Umrisse eines groß gewachsenen Mannes davor werden deutlich. In Versalien prangt auf den Displays: GUNTHER. Der Mann, in einen blutroten Mantel gehüllt, macht sich auf den Weg. Der Kampf kann beginnen.

Gunther im WWE-Kampf
Gunther im WWE-Kampf
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Wenn Walter Hahn zur Arbeit geht, gleicht es in der Regel dem Einmarsch eines aggressiven Schurken in einem Agentenfilm. Hahn, besser bekannt unter seinem Ringnamen „Gunther“, ist Profi-Wrestler bei der WWE, der größten Wrestling-Organisation der Welt. An diesem Abend verteidigt der 37-jährige Österreicher seinen Weltmeistertitel im Hauptkampf in Berlin gegen Randy Orton.

Beim Bash in Berlin, der ersten großen Live-Veranstaltung der WWE in Deutschland, wird der Wiener von den Fans als Lokalmatador gefeiert. Über 30 Minuten werfen sich Hahn und Orton gegenseitig durch den Ring und auf den Boden, tauschen scheinbar schwere Schläge aus, Orton befördert Hahn sogar durch den Kommentatorentisch. Am Ende siegt Hahn mit einem Aufgabegriff.

Gunther und WWE: Erfolg stellt sich auch in Deutschland ein

Bash in Berlin wird zum kommerziell erfolgreichsten internationalen Event in der Geschichte der WWE, Hahn endgültig zum Mega-Star. Wrestling-Hype – mitten in der Hauptstadt Deutschlands. „Ich glaube, in Deutschland finden sehr viele Leute Wrestling cool. Aber nicht jeder traut sich, das auch öffentlich zu zeigen oder auszuleben.“, sagt Hahn, als wir ihn später zum Interview treffen. Den Mantel, die knappe Hose und die kniehohen Schnürstiefel hat er eingetauscht gegen einen Cardigan, T-Shirt, Jeans und weiße Sneaker. Vom grimmig dreinblickenden, aggressiven Gunther fehlt – bis auf die weiterhin imposante Erscheinung (1,93 Meter, knapp 110 Kilogramm) – jede Spur.

Wir sprechen mit einem geradlinigen, intelligenten Sportler und Entertainer über sein Handwerk.

Erlernt hat er es bereits als Jugendlicher in Wien, kurz nachdem er mit dem Fußballspielen aufgehört hatte. Er findet zurück zu seiner Kindheitsleidenschaft, dem Wrestling, und besucht eine Wrestling-Schule. Bereits mit 18 Jahren steht Hahn im Ring, tritt in Österreich und der Schweiz an. Nebenbei arbeitet er unter anderem als Spediteur.

„Wrestling ist kein geradliniger Weg. Es ist eher wie Wilder Westen. Dahinter steckt kein Verband oder Vereinswesen. Irgendwann lernt man Wrestling, kauft sich ein Outfit und schaut, dass man mit Veranstaltern in Kontakt kommt und auftreten kann.“ Kurz nach seinem Debüt lebt er für mehrere Monate allein in Japan, um seine Fähigkeiten zu verbessern. „Mich fasziniert die japanische Kultur sehr. Für mich verkörpert sie eine nahezu ideale Sozialgesellschaft, die zusammenlebt.", erinnert sich Hahn.

Gunther: Das steckt hinter dem Ringgeneral-Gimmick 

Zurück in Europa tritt er hauptsächlich bei Westside Xtreme Wrestling (wXw), Deutschlands größter Wrestling-Promotion, an – und steigt innerhalb weniger Jahre zu einem der besten und meistgefragten Wrestler Europas auf. Während dieser Zeit lernt er auch Marcel Barthel kennen. Zusammen mit ihm und dem US-Amerikaner Timothy Thatcher gründen sie die Gruppe „Ringkampf“ – sowohl in den Shows als auch als Freundesgruppe hinter den Kulissen.

„Wir haben es geliebt, alte Wrestling-Dokumentationen aus den 80ern und 90ern zu schauen. Damals wollten die Wrestler ihr Handwerk noch als echten Wettkampf verkaufen.“ Erzählt Hahn.

„Wir fanden das so unterhaltsam und dachten uns, das müssen wir zu einem Gimmick machen.“

Mit Gimmick wird in der Wrestling-Szene der Charakter und das Image beschrieben, das ein Wrestler vor den Zuschauern verkörpert. Im Fall von Hahn und „Ringkampf“: „Dass wir die sind, die immer sagen: Früher war alles besser. Das haben wir dann auch in unserem Look einfließen lassen.“

Die Gruppe tritt in minimalistischen, schwarzen Hosen und Stiefeln auf. Hahn trägt fortan einen langen Mantel und erhält den Spitznamen „Ring-General“. In den Shows verkörpern Hahn, Barthel und Thatcher nüchterne, traditionalistische und militante Charaktere, die sich mehr Respekt für ihr Handwerk wünschen. Thatcher schlägt auch das klassische Stück von Dvořák als Einlaufmusik vor. Zwischen den Seilen setzen sie auf harte Schläge, technische Ringergriffe und realistisch wirkende Kämpfe. Die Gruppe kommt bei den Fans an – genau das, worum es den Wrestlern geht.

Marcel Barthel unter dem Ringnamen Ludwig Kaiser treten wöchentlich bei "Raw" auf.
Marcel Barthel unter dem Ringnamen Ludwig Kaiser treten wöchentlich bei "Raw" auf.
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Immer wieder die WWE bei Hahn und Barthel an. Letzterer wechselt bereits 2017 zur amerikanischen Wrestling-Promotion und heißt fortan „Ludwig Kaiser“. Hahn folgt Barthel knapp ein Jahr später. In der WWE bilden die Freunde fortan die Gruppierung „Imperium“. Angekommen in der größten Wrestling-Liga der Welt – die Erfüllung des großen Traums. Oder? „Nein“, sagt Hahn. „Ich habe mich ehrlich gesagt dort lange nicht gesehen, weil die WWE den Ruf hatte, dass man dort alles machen musste, was einem aufgetragen wurde. Also beispielsweise beim Charakter, den man darstellt. Ich bin aber nicht bereit, alles zu machen.“

WWE: Zwischen Erfolg und Skandal

Die WWE und ihr Ruf – das ist so eine Sache. Jahrzehntelang schwankte die öffentliche Wahrnehmung zwischen Wanderzirkus und weltweiter Entertainment-Maschine. Für die einen alberne Ami-Show, für andere aufregende Abendunterhaltung. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Dabei werden die Gegensätze nicht nur von außen herangetragen. Kein anderer verkörperte die Widersprüche der WWE-Welt zwischen Wrestling-Himmel und Entertainment-Hölle so sehr wie ihr Schöpfer selbst: Vince McMahon. 1983 kaufte er seinem Vater die damalige WWF ab und baute sie zu einem milliardenschweren Unterhaltungsimperium und einer Star-Fabrik auf. John Cena, Hulk Hogan oder Dwayne „The Rock“ Johnson gehören zu den zahlreichen Namen, die McMahon herausbrachte und die weit über ihren Sport hinaus zu globalen Superstars wurden.

Doch neben dem genialen Geschichtenerzähler und gewieften Geschäftsmann gibt es auch eine andere Seite des Wrestling-Imperators: die des angeblich skrupellosen Chefs, der Wrestler mit demütigenden Charakteren und Storys vor der Kamera lächerlich macht. Der Angestellte und Wrestler gemobbt, körperlich und emotional missbraucht und zur Einnahme von illegalen Substanzen wie Steroiden gedrängt haben soll.

Der Rückzug von Vince McMahon

2022 wird Vince McMahon vorgeworfen, Schweigegeldzahlungen an Mitarbeitende geleistet zu haben, denen gegenüber er sich sexuell übergriffig verhalten haben soll. Daraufhin gibt er seinen Rückzug als CEO bekannt – kehrt jedoch wenig später zurück, um einen Merger-Deal zwischen der WWE und der MMA-Promotion UFC zu verkünden.

Vince McMahon erfand die heutige WWE, musste jedoch nach Missbrauchsvorwürfen zurücktreten.
Vince McMahon erfand die heutige WWE, musste jedoch nach Missbrauchsvorwürfen zurücktreten.
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2024 wird er laut Wall Street Journal von einer ehemaligen Angestellten angeklagt, die ihn des psychischen und physischen Missbrauchs sowie der Vermittlung an andere Wrestler für sexuelle Dienste beschuldigt. Kurz darauf tritt er endgültig zurück. Das Verfahren ist weiterhin nicht abgeschlossen, und der Name McMahon taucht nur noch selten im WWE-Kosmos auf.

Seitdem leitet neben Präsident Nick Khan federführend McMahons Schwiegersohn Paul Levesque – besser bekannt als Ex-Wrestler Triple H – die WWE. Er war es auch, der den WWE-kritischen Walter Hahn von einem Wechsel überzeugte und ihn anschließend förderte.

Der Aufstieg zum Weltmeister

Innerhalb kürzester Zeit steigt Hahn in der WWE ins sogenannte Main Event, also die Spitzenpositionen des Wrestling-Kaders, auf. Im Sommer 2024 darf er unter der Ägide von Levesque als erster deutschsprachiger Wrestler überhaupt die World Heavyweight Championship gewinnen – einen der beiden großen Weltmeistertitel der WWE. „Es war schon strange, als ich im Hotel mit dem Gürtel vor dem Spiegel stand. Aber ich kann mir nicht erlauben, mich darin zu verlieren, denn ich muss die Rolle als Champion auch ausfüllen“, sagt Hahn. „Klar, ich darf meinen Traum als Beruf leben. Aber man muss auch professionell und ergebnisorientiert an die Sache rangehen.“

Mit Hahn als Champion von „Raw“ – der jeden Montag erscheinenden Live-TV-Show der WWE – und Cody Rhodes als Titelträger bei „SmackDown“, der Freitags-Show, führt Levesque die WWE in den wohl größten Boom ihrer Geschichte.

Nachdem das Unternehmen in den Jahren vor und während der Corona-Pandemie strauchelte, verwandelte Levesque die WWE in eine Mainstream-Sensation. Für über fünf Milliarden Dollar verkaufte die WWE die TV-Rechte von Raw für zehn Jahre an Netflix. Umsätze und Reichweitenzahlen schießen in Rekordhöhe, die Produktionen der Shows werden zunehmend hochwertiger und cinematischer, während sich zahlreiche Stars als Wrestling-Fans outen. Das Jahreshighlight WrestleMania 41 – der Super Bowl der WWE – findet am 19. und 20. April 2025 in Las Vegas statt und soll die kommerziellen Bestmarken des Vorjahres übertreffen. Kurz zuvor tourt die WWE am 15., 16. und 29. März durch Dortmund, Hannover und Wien. Mit dabei: Hahn und Barthel.

„Früher, in den 1990ern, war Wrestling eher eine Randerscheinung, fast schon bizarr“, sagt Barthel.

„Jetzt gerade bewegen wir uns aber dahin, dass Wrestling einfach wieder cool ist. Man muss sich nicht mehr dafür schämen, ein Wrestling-Fan zu sein.“

Wrestling ist also wieder cool – und vor allem erfolgreich. Woran liegt das? Und wie lässt sich die neue Ära beschreiben? „Schwierig, das auf einen Nenner herunterzubrechen“, überlegt Hahn. „Mittlerweile sind viele internationale Wrestler bei der WWE unter Vertrag und bringen verschiedene Wrestling-Kulturen und -Stile mit. Das sorgt für eine ausgewogene Mischung.“

Aber er betont auch: „Am Ende des Tages ist Wrestling natürlich auch Sports Entertainment. Also Sport im Sinne der Unterhaltung.“

Beides gilt es für Hahn zu kombinieren. Einerseits, das lässt sich allein optisch feststellen, ist er Profi-Athlet. Jede Woche muss er in den Städten, durch die die WWE mit ihren TV-Shows tourt, sportliche Höchstleistungen abliefern. Er benötigt eine herausragende Kraftausdauer, muss beweglich sein und gleichzeitig Gegner jenseits der 100-Kilo-Grenze in die Luft heben und auf die Matte werfen. „Man hat eigentlich nicht die Trainingskapazität, um alles abzudecken, was man bräuchte. Dazu kommen die Reisen, die viel Zeit rauben. Bei der richtigen Ernährung gibt es auch Phasen, in denen es gut klappt – oder eben nicht“, sagt Hahn. „Da muss jeder einen Weg für sich und seinen Stil finden.“

Das Geheimnis des Wrestling-Erfolgs

Gleichzeitig ist er Schauspieler und Unterhalter: „Die Zuschauer wollen sich verlieren können in unserer Welt.“ Genau hier liegt wohl der Schlüssel zur Faszination des Wrestlings – und zur Erklärung seines Erfolgs in den letzten Jahren. Wrestling ist längst kein karikierter, simpler Schaukampf zwischen Gut und Böse mehr. Es stehen nicht mehr der bodybuilderähnliche Amerikaner und der ausländische Schurke im Ring gegenüber.

Im Wrestling, besonders in der WWE, werden Geschichten erzählt – absurde, tiefgründige, oberflächliche, komplexe und alberne. Mit Sprache, Mimik, Athletik, dramaturgischen Mitteln, Choreografie und Schauspiel. Es geht um Freundschaft und Verrat, Moral und Emotionen, Antihelden, Underdogs und Fabelwesen. Wrestling ist weniger ein reiner Ringkampf als vielmehr eine Live-Show, die von Elementen aus Theater, Sport und Action lebt.

Im August gewinnt Hahn die World Heavy Weight Championship
Im August gewinnt Hahn die World Heavy Weight Championship
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Und was die Kritik betrifft, Wrestling sei „alles Fake“: Niemand gibt vor, dass sich Menschen im Ring wirklich bis zum K. o. prügeln oder der Sieger nicht bereits feststeht. Niemand behauptet, der plötzlich auftauchende untote Totengräber sei echt. Im Gegenteil: Wrestling bietet die Möglichkeit, dessen Geschichte so glaubhaft und unterhaltsam zu erzählen, dass sich die Zuschauer in dieser fantastischen Welt verlieren. Sie wissen, dass die Person im Ring nicht wirklich böse ist, und quittieren seine Aussagen dennoch mit Buh-Rufen. Sie kennen den Ausgang des Kampfes, fiebern aber trotzdem mit. Sie genießen die Geschichten mit ihren Emotionen.

„Wenn ich einen Zauberer sehe, dann will ich nicht immer wissen, wie er es macht – ich will einfach die Show genießen. Am Ende des Tages möchte der Zuschauer nicht für dumm verkauft werden. Und ich glaube, dass wir endlich den Sprung geschafft haben, Wrestling als das anzuerkennen, was es ist“, sagt Barthel. Oder wie Levesque es kürzlich formulierte: „Diejenigen, die unsere Fans für dumm halten, weil sie wissen, dass Wrestling nicht echt ist, möchte ich vom Gegenteil überzeugen. Wrestling-Fans sind klug genug, um zu akzeptieren, dass es eine Show ist – und trotzdem an die Charaktere und Geschichten zu glauben.“

Auch deshalb jubeln die Zuschauer Hahn zu, der in Berlin mit seinem Charakter Gunther einen unsympathischen Bösewicht verkörpert. Sie genießen die Show und bringen ihre Wertschätzung lautstark zum Ausdruck. Je packender die Charaktere und Geschichten sind, desto eher erreichen Wrestler ihr eigentliches Ziel: nicht den Sieg im Ring, sondern die Reaktion des Publikums. Wer Emotionen weckt – positiv oder negativ –, gewinnt Aufmerksamkeit, verkauft Tickets, Abos und Merchandise. So funktioniert das Wrestling-Business.

Doch was macht einen talentierten Wrestler letztlich aus? „Das ist ganz individuell, je nachdem, welchen Stil man vertritt“, sagt Hahn nach kurzem Überlegen.

"Im Sport-Entertainment ist es so: Man sieht einen Typen – und entweder löst er etwas in Menschen aus oder nicht. Entweder hat er eine gewisse Aura oder nicht."

"Ich weiß nicht, ob es dafür wirklich ein Rezept gibt.“ Wenn jedoch bald Dvořáks Sinfonie bei Wrestlemania durch das Stadion in Las Vegas hallt, wird sich erneut zeigen: Hahn kennt dieses Rezept.


 


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