Mentale Gesundheit

Yemisi Ogunleye: So lernte sie aus schwieriger Vergangenheit mentale Stärke

Olympiasiegerin Yemisi Ogunleye und der Moment, in dem alles zählt: Die Kugelstoßerin spricht in der Rubrik "In my mind" über ihren Triumph von Paris – und wie sie aus Mobbing und Selbstzweifeln mentale Stärke entwickelte.

Yemisi Ogunleye mit ihrer Goldmedaille
Credit: Paul Hüttemann

 

Es war der sechste Versuch. Mein letzter an diesem Abend im Stade de France in Paris. Eigentlich machte ich alles wie immer, folgte meiner Routine: Ich stelle mir den nächsten Stoß visuell vor, male mir die ideale Ausführung und Flugkurve aus. Nach einer kurzen Anweisung von meiner Trainerin betrete ich den Ring – und blende alles aus. Ich konzentriere mich auf eine tiefe Ein- und Ausatmung. Sorgen, Ängste und Gedanken atme ich bewusst aus und setze alles, was ich habe, in den nächsten Stoß.

Yemisi Ogunleye (Team GER), Olympiasiegerin im Kugelstoßen der Frauen, Finale am 8. Tag der Leichtathletik-Wettbewerbe in Paris.
Yemisi Ogunleye am 8. Tag der Leichtathletik-Wettbewerbe in Paris
Credit: Imago
x/x

Und trotzdem: In diesem entscheidenden Moment bei den Olympischen Spielen war da noch etwas anderes. Eine besondere Ruhe. Bereits nach dem fünften Versuch war klar, dass ich die Silbermedaille sicher hatte. In diesem Augenblick spürte ich keinen Druck mehr, keinen Zwang. Es war reine Motivation. Selbst nach dem ersten Versuch, bei dem ich gestürzt war, spürte ich Gelassenheit. Natürlich ist so ein Sturz blöd, hinzufallen kann schnell eine Blockade auslösen.  Aber ich merkte: Ich war schneller aufgestanden, als ich gefallen war. Ich sagte mir: „Auch wenn ich beim nächsten Versuch noch einmal genauso hinfalle – ich werde wieder aufstehen und weitermachen.“ Das mag nach einer vorbildlichen Herangehensweise klingen. Doch wer meine Geschichte kennt, der weiß, dass dieser Umgang mit schwierigen Situationen nicht immer so war.

Als Kind und als Jugendliche habe ich Mobbing und Ausgrenzung erlebt. Es ging so weit, dass ich ab einem gewissen Punkt mit sehr dunklen Gedanken konfrontiert war. Wenn dir immer wieder eingeredet wird, dass du nicht gut genug bist, dann fängst du irgendwann an, das zu glauben – gerade als junger Mensch. In dieser schweren Zeit fand ich Halt in Glauben und Sport. Erst durch ihn habe ich gelernt, dass ich mein Potenzial niemals ausschöpfen könnte, wenn ich nicht an mich selbst glaubte. Ich kann das beste Training haben, die krassesten Leistungen abrufen – wenn ich in dem Moment, in dem es zählt, an mir zweifle, kann ich nicht erfolgreich sein. Ich fing an, mich aktiv mit diesen negativen Gedanken auseinanderzusetzen.

Ich hinterfragte die Zweifel und die Lügen, dass ich nichts wert sei:

„Stimmt das, was du gerade denkst? Ist das wirklich wahr oder nur eine momentane Unsicherheit?“

Nein, es stimmte natürlich nicht. Warum sollte ich nicht erfolgreich, nicht in etwas gut sein können? Ich ersetzte die negativen Gedanken durch positive Affirmationen. Durch Wahrheiten. Wenn ich heutzutage im Ring stehe und denke: „Du kannst das gar nicht mehr“, dann hinterfrage ich das: „Bist du dir sicher?“ Offensichtlich nicht – vor wenigen Monaten wurde ich Olympiasiegerin.

Yemisi Ogunleye (Team GER), Olympiasiegerin im Kugelstoßen der Frauen, Finale am 8. Tag der Leichtathletik-Wettbewerbe in Paris.
Yemisi Ogunleye (Team GER), Olympiasiegerin im Kugelstoßen der Frauen, Finale am 8. Tag der Leichtathletik-Wettbewerbe in Paris.
Credit: Imago
x/x

Nicht falsch verstehen: Ängste und Zweifel sind normal, vor allem im Wettkampf. Dabei kann die Aufregung sogar helfen und zusätzlich Feuer entfachen. Die Zuschauer, die Stimmung – mein Körper weiß: „Heute kommt es drauf an.“ Trotzdem sage ich mir: „Du machst hier nichts anderes als im Training.“ Diese Mischung aus Routine und Adrenalin hilft mir. Wenn ich zu nervös und hibbelig werde, habe ich verschiedene Techniken: Ich singe, atme – und bete. Immer wieder sage ich mir einen Psalm vor. All das hat mir geholfen, mir Gelassenheit und Selbstvertrauen anzueignen. Deshalb verurteile ich meine Vergangenheit auch nicht. Sie hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Es ging mir in der Folge auch nie darum, es irgendjemandem beweisen zu müssen. Das ist oft eine natürliche Reaktion, wenn man Mobbing erlebt. Ich habe durch meinen Glauben verstanden, dass ich geliebt werde – mit oder ohne Medaille, mit 20 Metern Stoßweite oder ohne. Diese Gewissheit gibt mir die Freiheit, im Ring zu stehen und alles mit Leichtigkeit zu tun. Diese Einstellung hat mich bis zu den Olympischen Spielen getragen. Hätte ich das der zehnjährigen Yemisi erzählt, hätte die sich kaputtgelacht.

Eine große Rolle spielt für mich dabei meine Trainerin Iris Manke-Reimers. Sie trainiert mich seit elf Jahren. Sie ist mein Ruhepol und weiß, wann sie bei Versuchen gar nichts sagen muss. Wann sie sagen muss, dass ich einfach Spaß haben soll. Wann sie mich motivieren muss – und wann „Heute gehen wir lieber Eis essen.“ Sie war auch an diesem Abend in Paris ganz nah bei mir.

Trainerin Iris Manke-Reimers (rechts) nennt Yemisi Ogunleye eine ihrer größten Stützen und war mit ihr sogar Teil einer Adidas-Kampagne.
Trainerin Iris Manke-Reimers (rechts) nennt Yemisi Ogunleye eine ihrer größten Stützen und war mit ihr sogar Teil einer Adidas-Kampagne.
Credit: PR
x/x

Nach meinem letzten Versuch lief ich direkt zu ihr. Ich hatte soeben 20 Meter geschafft. Exakt 20. Die Zahl, die ich Hunderte Male vor den Olympischen Spielen in mein Tagebuch geschrieben hatte, für die ich gebetet hatte. 20 Meter bedeuten nicht automatisch einen Olympiasieg. Nicht selten kommt es vor, dass man mit 20 Metern nicht mal eine Medaille gewinnt. In diesem Moment war mir das egal. Ich hatte alles abgerufen, was ich mir vorgenommen hatte. Ich hatte mein Ziel erreicht. Als ich zu meiner Trainerin lief, fiel mir ein, dass direkt nach mir noch eine Kugelstoßerin ihren finalen Versuch gehabt hatte. Ich blickte zum ersten Mal auf die Leinwand, konnte aber selbst nicht genau erkennen, wo die Kugel der Neuseeländerin aufgekommen war. Dann sah ich in das Gesicht meiner Trainerin – sie hatte Tränen in den Augen, alle fielen mir um den Hals. Und dann sagte sie: „Yemi, du bist Olympiasiegerin.“



Mit dem Sports Illustrated-Chefredakteurs Newsletter erhalten Sie aktuelle Sport-News, Hintergründe und Interviews aus der NFL, der NBA, der Fußball-Bundesliga, der Formel 1 und vieles mehr.

NEWSLETTER ABONNIEREN 


Mehr Sport-News

Die Fußball-EM 2025 der Frauen findet vom 2. bis 27. Juli in der Schweiz statt. Deutschland geht neben Spanien, Frankreich und Titelverteidiger England als einer der Favoriten an den Start. Kalender, Spielplan, Teams und Resultate.

Michael Schumachers folgenschwerer Skiunfall ist mittlerweile elf Jahre her. Aber noch immer ist Schumi einer der erfolgreichsten Rennfahrer in der Geschichte der Formel 1. Das waren die größten Grand-Prix-Siege von Michael Schumacher in der Königsklasse. 

Julian Nagelsmann ist neuer Bundestrainer von Deutschland. Zuvor war er Trainer des FC Bayern München. Doch wie verlief seine Karriere bislang? Welche Titel hat er gewonnen? Wer ist seine Freundin? Wie hoch ist sein Gehalt? Alle Informationen gibt's hier.