Leichtathletik

Gina Lückenkemper über 100-Meter-Sprint: "Hör auf zu denken und lauf einfach"

Deutschlands Top-Sprinterin Gina Lückenkemper spricht im Interview über ihre Vorliebe für Geschwindigkeit, ihre Olympia-Chancen in Paris, Entbehrungen in den USA und den aktuellen Zustand der deutschen Leichtathletik.

Gina Lückenkemper
Credit: Magnus Lechner

Wir treffen Gina Lückenkemper im adidas-Headquarter in Herzogenaurach zum Foto-Shoot. Ihr musikwunsch zum Warmwerden: "P.Y.T. (Pretty Young Thing)" von michael jackson. Der King of Pop läuft anschließend in Dauerschleife während des mehrstündigen Shoots.

Danach gehen alle gemeinsam zum Mittagessen, Gina Lückenkemper ordert Pizza Carbonara. Das Interview führen wir später per Videocall, kurz nach der Leichtathletik-EM in Rom.


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Sports Illustrated: Bei unserem Foto-Shoot vor diesem Interview ist uns aufgefallen: Sie waren sofort locker, haben gelacht, getanzt – es hat Ihnen offensichtlich Spaß gemacht.

Gina Lückenkemper: Absolut, das hat es. Ich genieße es, neben dem Sport auch mal etwas anderes machen und mich ausprobieren zu dürfen. Das bringt Abwechslung – und die tut mir immer gut.

Sports Illustrated: Das entspricht auch dem Bild, das in der Öffentlichkeit von Ihnen herrscht: Gina Lückenkemper: easy-going, fröhlich und selbstbewusst. Trifft das alles so zu?

Lückenkemper: Ich hoffe doch sehr! Sonst würde ich mir Sorgen machen über meine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.

Sports Illustrated: Woher kommt das?

Lückenkemper: Ich glaube, ich bin einfach so groß geworden. Ich war schon immer eher extrovertiert, wie mein Papa. Wir sind uns sehr ähnlich – während mein Bruder zunächst zurückhaltend wie meine Mama ist. Aber auch die beiden tauen schnell auf. Diese offene Art liegt also in der Familie.

Sports Illustrated: Sie haben über sich auch gesagt, dass Sie ein Mensch sind, der Dinge lange überdenkt – selbst während eines Rennens.

Lückenkemper: In schlimmen Fällen: Ja.

Sports Illustrated: Das heißt?

Lückenkemper: Mein Trainer Lance Brauman sagte mir mal: Hör auf zu denken und lauf einfach. Bei Wettkämpfen hat er das nicht gern, wenn ich ihm nachher erzähle, was ich alles wahrgenommen und worüber ich nachgedacht habe. Da ich aber vor allem im Sport extrem perfektionistisch bin, komme ich manchmal ins Nachdenken. Aber mein Trainer sagt: Speed muss man passieren lassen. Das kann man nicht erzwingen. Eigentlich muss man "nur" laufen, ohne dabei nachzudenken. Das ist mir bislang in meiner Karriere aber noch nicht so häufig passiert.



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Lückenkemper über Paris: "Freue mich wahnsinnig darauf"

Sports Illustrated: Und wie ist es mit Nervosität? Kennen Sie die?

Lückenkemper: Nicht wirklich. Das liegt auch daran, wie ich in den Spitzensport gekommen bin. Ich durfte 2012 als 15-Jährige bei der U-20-Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Barcelona teilnehmen. Als jüngste Sportlerin dort konnte ich vor so einer Kulisse ohne Erwartungshaltung und voller Leichtigkeit eigentlich nur gewinnen. Das hat mich geprägt, seitdem gehe ich Großereignisse mit einem ähnlichen Gefühl an. Einen Hauch Nervosität spüre ich aber woanders …

Sports Illustrated: Wo?

Lückenkemper: Bei der Staffel. Hier geht es nicht nur um mich und meine Performance, sondern auch um Dinge, die ich nicht selbst in der Hand habe. Und: Wenn ich es verkacke, verkacke ich es nicht nur für mich.  

Sports Illustrated: Wie sieht es bei den bevorstehenden Olympischen Spielen aus? Wenn Sie daran denken, empfinden Sie …

Lückenkemper: Vorfreude! Ich freue mich wahnsinnig darauf. Vor allem, weil ich mir dafür den ganzen Winter über im Training dermaßen den Hintern aufgerissen habe.

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Sports Illustrated: Es wird Ihre dritte Olympiateilnahme. Wenn Sie sich mal in diesen Moment hineinversetzen: Sie gehen zum Startblock, das Sprint-Finale steht kurz bevor. Was geht da in Ihnen vor?

Lückenkemper: Wenn das „On your marks“ ertönt, nehme ich noch einmal einen tiefen Atemzug. Dann geht es für mich in den Startblock, und ich versuche, nicht zu denken. Die Betonung liegt auf: versuchen.

Sports Illustrated: Dann geht alles wahnsinnig schnell. Jahrelang arbeitet man auf Olympia hin, und innerhalb von elf Sekunden ist alles vorbei.

Lückenkemper: Das stimmt. Noch dazu ist es beim Sprint so, dass wir nicht wie bei Sprung- oder Wurfdisziplinen mehrere Versuche haben und diese innerhalb eines Zeitfensters selbst starten dürfen. Sprinter haben einen Versuch, und der wird vorgegeben. Das macht das Ganze aber auch aufregender, und dieser Nervenkitzel, dass man auf den Punkt genau performen muss, gehört bei unserem Sport dazu. Das gelingt mir oft – manchmal aber eben auch nicht.

Sports Illustrated: Sie sagten einmal, dass Sie in so gut wie allen Bereichen Ihres Lebens schneller seien als andere. Sind Sie das rund um die Uhr?  

Lückenkemper: Der Großteil meines Lebens spielt sich mit sehr viel Schnelligkeit ab. Ich genieße Geschwindigkeit. Ich mag es aber auch sehr, mal zu entschleunigen. Am allerliebsten mit meinen Tieren. Mit meiner Dackel-Hündin Akira gehe ich gerne spazieren oder liege mit ihr und einem Buch auf der Couch. Ich kann auch gut im Stall mit meinem Pferd runterfahren. Da sich Hektik sehr schnell auf ein Pferd überträgt, bin ich hier gezwungen, langsam zu machen.

Sports Illustrated: Müssen Sie sich öfter zwingen, mal langsamer zu machen?

Lückenkemper: Nein, eigentlich nicht. Ich merke, wenn ich Ruhe brauche – und die benötige ich definitiv. Mein Leben besteht nicht daraus, dass ich ständig von A nach B renne. Ich sage immer, ich bin Kurz-Sprinterin. Es geht darum, einmal eine intensive Performance abzuliefern. Danach muss auch ich mich eine ganze Weile ausruhen.

Sports Illustrated: Blicken wir kurz zurück: Im Frühsommer fand die Leichtathletik-EM 2024 in Rom statt. Im Einzel-Sprint über 100 Meter wurden Sie Fünfte, mit der 4x100-Meter-Staffel Vierte.  

Lückenkemper: Natürlich wollte ich mehr, alles andere wäre gelogen. Ich wollte mit Edelmetall heimfahren. Aber so ist der Sport, die anderen trainieren ja bekanntlich auch. Ich hatte im Finale ein paar technische Fehler drin, weil ich meine Hüfte nicht richtig ausgerichtet und meinen Körperschwerpunkt nicht perfekt getroffen habe. Mit meiner Performance im Einzel bin ich trotzdem sehr zufrieden.

Sports Illustrated: Woran machen Sie das fest?

Lückenkemper: Die 11,07 Sekunden stimmen versöhnlich, weil es immer noch ein schnelles Rennen war und die Zeit der geforderten Olympia-Norm entspricht. Aber ich weiß: Da schlummert ein richtiges Feuerwerk in meinen Beinen, das ich leider in Rom noch nicht zünden konnte – aber hoffentlich in Paris. Mit der Staffel haben wir angesichts der chaotischen Umstände, als wir kurz vor Start im Team noch mal umstellen mussten, das Beste herausgeholt.

Sports Illustrated: Ein Feuerwerk brannten Sie bereits zwei Jahre zuvor ab, bei der EM 2022 in München: Gold über 100 Meter, Gold mit der 4x100-Meter-Staffel. Wie hat sich Ihr Leben nach Ihren wohl größten Erfolgen seitdem verändert?

Lückenkemper: Ehrlich gesagt: sehr wenig. Selbstbewusst war ich schon vor der EM. Niemand hatte damit gerechnet, dass ich dort überhaupt eine Medaille gewinnen würde – auf einmal war 2022 das erfolgreichste Jahr meiner Karriere. Zweimal EM-Gold, WM-Bronze mit der Staffel und der Titel als „Deutschlands Sportlerin des Jahres“. Das war heftig. Es ist schon so, dass ich seitdem in der Leichtathletik-Szene anders wahrgenommen werde. Aber für mich hat sich nichts geändert. Ich bin immer noch die, die schnell redet, schnell isst und schnell rennt. Ich bin immer noch Gina.

Gina Lückenkemper: "Habe das Gefühl, dass da etwas Großes in den Beinen schlummert"

Sports Illustrated: Und nicht wenige würden sagen: Sie sind das Gesicht der deutschen Leichtathletik. Wie fühlt sich das an, mit so einer Erwartungshaltung die olympische Königsdisziplin des 100-Meter-Sprints zu laufen? Breite Brust oder schwere Schultern?

Lückenkemper: Das gibt mir eine breite Brust. Aber: Ich bin nicht das alleinige Gesicht der deutschen Leichtathletik. Wir haben viele herausragende Athletinnen und Athleten und zahlreiche große Namen. Deswegen spüre ich da keinen Druck, sondern Stolz. Das, was ich da mache: Das macht mir Spaß. Ich gehe meinen Sport mit einer wahnsinnigen Leidenschaft an. Ohne dieses Rezept könnte ich diese Zeiten nicht laufen – und würde mir den ganzen Krempel wahrscheinlich auch nicht antun.

Sports Illustrated: Was ist denn drin in Paris?

Lückenkemper: Wenn ich auf mich schaue, habe ich das Gefühl, dass da etwas Großes in den Beinen schlummert. Dass da etwas Ordentliches kommt, das es gilt, auf die Bahn zu bringen. Wenn das gelingt, stehen die Zeichen gut, dass ich mir den Traum vom ersten Olympia-Einzelfinale erfüllen kann. Das ist erst mal das Ziel. Im Finale werden die Karten sowieso neu gemischt, dann ist alles möglich.

Sports Illustrated: Und mit der Staffel?

Lückenkemper: Wir haben das Talent, mit der Staffel um Medaillen zu kämpfen. Aber die Herausforderung ist es, vier Läuferinnen an den Start zu bekommen, die fit und in Form sind. Das klappt nicht immer – zuletzt ist es uns bei der EM 2022 gelungen.

Sports Illustrated: Sie haben eben schon diesen Olympia-Traum skizziert. Gehört dieses Träumen dazu, braucht man das als Sportlerin?

Lückenkemper: Wir brauchen uns nichts vorzumachen, ich stelle mich nicht in die Öffentlichkeit und sage: Ich werde Gold holen. Aber ich finde, man muss in ein Finale mit dem Mindset reingehen, dass alles möglich ist. Das war auch meine Einstellung bei der EM 2022.  

Sports Illustrated: Als Ihre Schwäche gilt der Start. Sie arbeiten seit Jahren daran. Wird das mit der Zeit nicht zu einer Art self-fulfilling prophecy? Dass sich irgendwann im Hinterkopf festsetzt: Mein Start ist nicht gut?

Lückenkemper: Diesen Gedanken habe ich nicht. Wenn mein Start so schlecht wäre, wie er teilweise dargestellt wird, könnte ich nicht diese Zeiten laufen. Es gibt auf internationaler Ebene Athletinnen, die im Startblock noch mal stärker sind als ich. Aber ich finde es amüsant, wenn mir Leute sagen, dass ich es halt einfach trainieren soll – so leicht ist das nicht. Gerade wenn es um Bewegungsabläufe geht, braucht man viele Wiederholungen, bis sich das automatisiert. Und da reden wir nicht von zwei oder drei, sondern von mehreren Tausend Wiederholungen. Aber ich weiß, dass wir daran arbeiten, dass ich mich verbessert habe – und dass ich noch Potenzial habe. Das ist cool zu wissen: Ich renne jetzt schon schnell und kann noch schneller werden.  

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Sports Illustrated: Wie viel ist dann letztlich Training – und wie viel Talent?

Lückenkemper: Talent spielt eine nicht unerhebliche Rolle, aber mit dem Talent muss man halt arbeiten. Dass Sprinten letztlich auch Technik ist, vergessen viele. Auf diesem hohen Niveau geht es im Training um die feinsten Stellschrauben. Mein Trainer in den USA hilft mir, die letzten drei bis fünf Prozent herauszuholen.  

Sports Illustrated: Ihre persönliche Bestzeit von 10,95 Sekunden erreichten Sie bereits 2017. Motiviert Sie das: zu wissen, wie schnell Sie sein können? Oder frus­triert das, dass die Marke seit sieben Jahren steht?

Lückenkemper: In Deutschland wird ein Athlet immer aufgrund seiner persönlichen Bestleistung definiert. Das ist, sorry, Bullshit. Eine persönliche Bestleistung zeigt für mich lediglich das Potenzial eines Athleten. 10,95 Sekunden sind mein Potenzial. Aber diese Zeit definiert nicht, was ich für eine Sprinterin bin. Was für mich am Ende zählt, ist der ZIP-Code. Der berechnet sich aus dem Durchschnitt der zehn besten Leistungen. Meiner liegt aktuell bei 11,00 Sekunden. Ich habe also eine andere Sichtweise auf Leistungen – was ich erst in den USA gelernt habe. Für mich war es lange frustrierend, dieser Bestzeit hinterherzulaufen. Deswegen hat mir diese neue Interpretation unfassbar gutgetan. Und das Schönste ist es, wenn man diesen ZIP-Code immer weiter herunterschrauben kann. Ich möchte ihn unter elf Sekunden bringen und damit eine "Sub Eleven"-Sprinterin sein.

Sports Illustrated: Sie haben schon öfter den Wechsel in die USA Ende 2019 und Ihr Training dort angesprochen. Wie wichtig war das für Sie?

Lückenkemper: Ich durfte durch diesen Wechsel in die Trainingsgruppe von Lance Brauman so unfassbar viel über meinen Sport lernen und viel Verständnis gewinnen: für das, was ich da eigentlich mache, was von mir verlangt wird und was es eigentlich bedeutet, Profi-Leichtathlet zu sein. Ich darf in einer Gruppe voller Weltmeister, Olympiasieger und Weltrekordhalter trainieren. Wie krass ist das, sich regelmäßig und täglich mit solchen Menschen umgeben zu dürfen? Wenn dann 
ein Weltrekordhalter nach einem Training zu einem sagt, dass er vor der Einheit Angst hatte, und man selbst Ähnliches gespürt hatte, sind das Momente, die wertvoll sind. Ich habe auch extrem viel über Sprinttechnik gelernt, habe regelmäßig Aha-Momente im Training. Die Zeit in den USA ist eine große Zeit des Lernens. Das genieße ich sehr.

Sports Illustrated: Warum existiert so etwas in Deutschland nicht?

Lückenkemper: Was zunächst fehlt, ist die Möglichkeit, für deutsche Trainer internationale Athleten trainieren zu dürfen. Wir haben ja gute Trainer im Land. Aber wenn es um internationale Trainingsgruppen geht, heißt es in Deutschland oft: "Dann stärken wir ja die Konkurrenz." Meiner Meinung nach limitieren wir uns dadurch. Wie soll man besser werden, wenn man nie gegen die Besten der Besten sprinten und mit ihnen trainieren kann? Wie sollen deutsche Sprinterinnen dann konkurrenzfähig werden? Auf der anderen Seite: Ich gehöre zu den wenigen deutschen Leichtathleten, die sich komplett auf ihren Sport konzentrieren können. Das, was ich aktuell betreibe, ist für viele Sportler in Deutschland finanziell und zeitlich leider nicht machbar.

Sports Illustrated: Wie finanzieren Sie das?

Lückenkemper: Ich reinvestiere meine Sponsorengelder. Das Training, das ich in den USA mache, schenkt mir keiner. Da ist niemand, der sagt: "Gina, ich finde das so cool, was du da machst. Komm, ich bezahle dir den ganzen Bums." Ich finanziere das alles selbst. Ich zahle meine Flüge, Unterkunft, Mietwagen, Trainer.

Lückenkemper: "Die Zeit in den USA ist sehr von Einsamkeit geprägt"

Sports Illustrated: In Florida trainieren Sie unter anderem mit Sprint-Weltmeister Noah Lyles. Was können Sie von ihm lernen – und er von Ihnen?

Lückenkemper: Noah ist wie ich extrem perfektionistisch. Allein, wenn man ihm beim Training zuschaut, ist das technisch eine Augenweide. Ich bin jemand, der am besten lernt, wenn mir jemand ein Bewegungsgefühl vermittelt. Da kommt mir das Training mit Noah zugute, weil ich ihn direkt fragen kann: "Wie machst du das? Wie fühlt sich das an?" Dafür bin ich dankbar, er hat zu vielen meiner Aha-Momente beigetragen. Und ich hoffe doch sehr, dass Noah auch ein bisschen etwas vom Training mit mir mitnehmen kann.

Sports Illustrated: Wie sieht Ihre freie Zeit aus?

Lückenkemper: Die Zeit in den USA ist sehr von Einsamkeit geprägt. Meine Trainingskollegen sind in erster Linie Arbeitskollegen. Es können sich Freundschaften entwickeln, aber die Gruppe verändert sich oft. Ich bin froh, dass ich Akira bei mir habe. Ich gehe extrem viel spazieren mit ihr, das hilft mir beim Regenerieren. Ansonsten ist Schlaf eines meiner größten Hobbys. Ich erhole mich, drehe Däumchen, lese, schaue Netflix – und warte darauf, dass es am nächsten Tag zum Training geht. 

Sports Illustrated: Rechnen Sie die Vorteile mit den Dingen, die Sie im Gegenzug opfern, auf? Hat sich dieser Wechsel auf allen Ebenen gelohnt?

Lückenkemper: Ich würde lügen, wenn ich sage, ich hätte noch nie Zweifel daran gehabt, ob das komplett richtig ist, so viel Zeit weg von zu Hause zu verbringen. Ich bin ein totaler Familienmensch. Ich sitze auf einem anderen Kontinent, habe sechs Stunden Zeitverschiebung. Ich gehe deswegen auch schon um 20 oder 21 Uhr schlafen, um am nächsten Tag früh aufzustehen und mit allen zu Hause in Kontakt zu sein. Aber trotz allem: Ich wüsste keinen anderen Ort auf der Welt, wo ich all das lernen könnte. Auch wenn es hart und von Entbehrungen geprägt ist, sind das Dinge, die es mir wert sind. Ich weiß auch, dass das nicht für den Rest meines Lebens so sein wird. Wenn ich 60 Jahre alt bin, laufe ich definitiv keinen Wettkampf mehr. Hoffe ich zumindest …

Sports Illustrated: Wie lange wollen Sie noch antreten?

Lückenkemper: Keine Ahnung. Aktuell ist der Plan, den nächsten Olympia-Zyklus bis 2028 in Los Angeles mitzunehmen. Was danach kommt, werden wir sehen.

Lückenkemper über deutsche Leichtathletik: "Glaube, dass wir vieles zu negativ sehen"

Sports Illustrated: Haben Sie schon eine Ahnung, was das sein wird?

Lückenkemper: Nein. Ich genieße es momentan, mich neben dem Sport in anderen Dingen auszuprobieren. Als Speakerin zum Beispiel. Alles, was sich mir an Möglichkeiten bietet, probiere ich gerne aus und schaue, was mir langfristig gefällt.

Sports Illustrated: Vielleicht ja eine Rolle beim Deutschen Leichtathletik-Verband? Nach der medaillenlosen WM 2023 war der Aufschrei groß, die deutsche Leichtathletik sei in der Krise. Wie sehen Sie das?

Lückenkemper: Ich glaube, dass wir vieles zu negativ sehen. Das ist nichts Neues. Gerade in den Sportmedien wird gerne mal draufgehauen, das bleibt in den Köpfen der Leute hängen. Wir reden viel über die WM, aber dass die EM 2022 sehr erfolgreich war, fällt ganz schnell wieder unter den Tisch. Das finde ich schade und auch den Sportlern nicht fair gegenüber.

Sports Illustrated: Warum unfair?

Lückenkemper: In der Berichterstattung habe ich das Gefühl, dass häufig suggeriert wird, Sportler gäben sich keine Mühe oder hätten keine Lust gehabt. So liest sich das auch häufig in den Kommentaren in den sozialen Medien. Ich frage mich, wie die Menschen auf die Idee kommen, dass auch nur irgendein Athlet zu so einer Großveranstaltung fährt und keinen Bock hat. Ja, die deutsche Leichtathletik steht aktuell nicht ganz so gut da, und ja, es muss sich etwas verändern. Aber seit wann sind Veränderungen etwas, das im Vorbeigehen passiert? So funktionieren weder der Sport noch die Welt. Als Außenstehender ist es leicht zu sagen: Streng dich mehr an, lauf einfach schneller, spring oder wirf einfach weiter. Aber auf dem Level, auf dem wir das betreiben, ist das nicht so einfach – und das wird oftmals nicht richtig wertgeschätzt.

Sports Illustrated: Haben Sie die USA auch in Sachen Mindset geprägt? Werden dort die Dinge nicht so negativ gesehen?

Lückenkemper: Ich habe das Gefühl, dass sich die amerikanische Gesellschaft ebenfalls gerne auf die negativen Dinge konzentriert. In meiner Trainingsgruppe ist das zum Glück anders. Ich bin jemand, der gerne mit einem Lächeln unterwegs ist. Das wird in meiner Trainingsgruppe gefördert: sich auf die positiven Dinge zu konzentrieren.  

Sports Illustrated: Das ist aber oftmals gar nicht so leicht …

Lückenkemper: Nein, definitiv nicht. Aber am Beispiel der EM in Rom: Ich könnte mich aufregen, dass es nicht für eine Medaille gereicht hat. Ich schaue aber lieber darauf, dass ich in der Lage bin, trotz technischer Fehler eine schnelle Zeit zu laufen. Das bereitet mir Freude, das nehme ich mit. Mit einer negativen Einstellung wirst du nicht performen können. Wenn man sich an den positiven Dingen festhält, macht das Leben gleich viel mehr Spaß. Das ist mein Geheimtipp.


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