Sports-Illustrated-Interview

Leon Goretzka: "Wollen Aufmerksamkeit nutzen, um für unsere Werte einzustehen"

Leon Goretzka ist der etwas andere Fußballprofi. Das zeigt der 27-Jährige im Sports-Illustrated-Interview. Neben seinen Titelambitionen bei der WM in Katar, spricht er über Sorgend, die zunehmende Politisierung seiner Generation und den Umweltschutz.

Leon Goretzka
Credit: Markus Jans
Sports Illustrated 05/22
Manuel Neuer und Leon Goretzka im Exklusiv-Interview
Die neue Ausgabe von Sports Illustrated mit Manuel Neuer und Leon Goretzka im Exklusiv-Interview
Sports Illustrated 05/22
Manuel Neuer und Leon Goretzka im Exklusiv-Interview

Inhalt

Sports Illustrated: Ihre WM- und EM-Turniergeschichte ist bislang keine ganz erfreuliche: 2018 kamen Sie erst im letzten Gruppenspiel gegen Südkorea zum Einsatz, das gleichzeitig das Aus besiegelte. Vor der EM 2021 waren Sie lange verletzt und standen erst im Achtelfinale gegen England über 90 Minuten auf dem Platz – wieder das Aus. Wie beurteilen Sie Ihre Situation vor dieser WM?

Leon Goretzka: Da muss ich Ihnen leider recht geben – und in der Tat ist die Ausgangssituation für mich diesmal eine andere, ebenso wie meine Rolle in der Mannschaft. Ich trage mehr Verantwortung im Team und gehöre zum Stammpersonal. 2018 war ich froh, dabei zu sein, und befand mich eher in der Rolle des Herausforde­rers. 2021 sind wir deutlich zu früh ausgeschieden– auch wenn es bis dahin einige schöne Momente ge­geben hat. Für mich mit dem Tor gegen Ungarn und auch dem Spiel gegen Portugal, als man ansatzweise gespürt hat, was für eine Euphorie im Land bei so einem Turnier entstehen kann. Das will ich unbedingt noch einmal intensiver und über einen längeren Zeit­raum erleben.

Leon Goretzka: "Als Fußballnation waren wir lange Zeit verwöhnt"

Sports Illustrated: Es gibt ja diesen Mythos der deutschen Turniermannschaft.

Goretzka: Ja, wir als Fußballnation waren lange Zeit verwöhnt, bei großen Turnieren immer mindestens das Halb­finale zu erreichen und großartige Turniere zu erle­ben, in denen sich die Mannschaft stetig gesteigert hat. Damals ist man mit einer anderen Erwartungs­haltung in die Spiele gegangen, als man das heute tut. 2018 und 2021 waren sehr enttäuschend – sowohl für uns Spieler als auch für die Fans. Wir wollen bei der diesjährigen WM an die erfolgreiche Zeit davor anknüpfen.

Sports Illustrated: Kann man nach dem Vorrunden-Aus 2018 bei der WM in Katar überhaupt noch einen Gegner unterschätzen? Oder ist klar: Man muss von der ersten Minute zu 100 Prozent da sein – gegen jedes Team?

Goretzka: Gerade mit den jüngsten Erfahrungen wissen wir, dass es auf diesem Niveau keine Mannschaften gibt, die man mal locker wegfegt. Das Niveau ist extrem hoch, die Mannschaften sind mittlerweile alle tak­tisch top ausgebildet. Nahezu jede Mannschaft besitzt Weltklassespieler. Den Fehler, jemanden zu unter­schätzen, werden wir nicht machen.

Sports Illustrated: Es wird ein spezielles Turnier aus sportlicher Sicht: Mitten in der Saison, kaum Zeit zur Vorbereitung, es herrschen ganz andere klimatische Bedingungen als in Deutschland im November. Kann es in dieser Situation hilfreich sein, dass Hansi Flick ein Trainer ist, der schon 2020 beim Finalturnier der Champions League mit dem FC Bayern München ein ungewöhnliches, improvisiertes Turnier erfolgreich gecoacht hat?

Goretzka: Es gehört zu seinen großen Qualitäten, mit solchen Umständen umzugehen. Eine gewisse Stimmung zu erzeugen, in der man sich wohlfühlt und in der der Leistung auf dem Platz alles andere untergeordnet wird. Das war ein wichtiger Faktor in Lissabon, das wird uns auch jetzt bei der WM guttun.

Sports Illustrated: Mit welchem sportlichen Ziel gehen Sie ins Turnier? Kapitän Manuel Neuer spricht davon, Weltmeister werden zu wollen.

Goretzka: Wir streben immer nach dem maximalen Erfolg. Allerdings waren die Vorzeichen wohl selten zuvor so schwierig zu deuten. Gerade in Europa gibt es keine Mannschaft, die als klarer Topfavorit ins Turnier geht. Hinzu kommen Teams wie Argentinien oder Brasilien, die sehr souverän durch ihre Qualifikationen marschiert sind.

Leon Goretzka und Manuel Neuer (l.) beim Fotoshooting für Sports Illustrated
Credit: Markus Jans
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Sports Illustrated: Welche WM ist die erste, an die Sie sich bewusst er­innern?

Goretzka: Die WM 2002. Was mir am meisten im Gedächtnis geblieben ist, ist die Ausnahmeleistung von Oliver Kahn im gesamten Turnier und dann der Moment, in dem er im Finale zum tragischen Helden wurde, als Ronaldo das Abstauber-Tor gelang. Das ist Fußball, mit all seinen Höhen und Tiefen. Ich bin verrückt geworden vor dem Fernseher.

Sports Illustrated: Gab es damals einen Feldspieler, der Ihnen besonders imponierte?

Goretzka: Der Mythos als Turniermannschaft, der Ausdruck „Der Star ist die Mannschaft“: Das kam nicht von ungefähr. Die große Stärke Deutschlands war das Kollektiv und der außergewöhnliche Teamspirit.

Leon Goretzka: "Die Brust wird ein wenig breiter"

Sports Illustrated: Ist das auf den Kader dieser WM 20 Jahre später übertragbar? Den absoluten Weltstar und Einzel­könner, der alle anderen überstrahlt, gibt es im deut­schen Team nicht.

Goretzka: Weil wir das in Deutschland nicht zulassen, glaube ich. Im Ausland wäre beispielsweise Leroy Sané ein Superstar. Wir wissen, dass wir hervorragende Individualisten in unserem Team haben. Am Ende wird es jedoch nur funktionieren, wenn wir eine Einheit auf dem Platz sind.

Sports Illustrated: In den Fotos auf diesen Seiten tragen Sie das Jersey der Nationalmannschaft. Was bedeutet Ihnen das Trikot? Wie fühlt es sich an?

Goretzka: Die Brust wird ein wenig breiter. Es ist bis heute etwas Besonderes, dieses Trikot überstreifen zu dürfen und die Nationalhymne zu hören und zu singen. Dann weißt du, dass etwas Spezielles ansteht, dass du für dein Land und 84 Millionen spielst. Egal, ob du in einem Stadion auf den Färöer-Inseln auf dem Platz stehst oder bei einer WM-Endrunde. Das bleibt ein Kindheitstraum, den man sich erfüllt.

Sports Illustrated: Diese WM wird überschattet von Diskussionen um Menschenrechte, der politischen Situation in Katar. An der Vergabe lässt sich nichts mehr ändern – bietet das Turnier jetzt aber eine Chance, vor Ort auf Miss­stände hinzuweisen?

Goretzka: Klar ist doch, dass wir ein enormes Privileg haben, dass die Menschenrechte bei uns in Deutschland eine Selbstverständlichkeit sind. Aber das sind sie nicht in allen Ländern, wie wir tagtäglich erleben müssen. Wir als Nationalspieler können gerade in diesen Zeiten und Wochen Botschafter für die Werte unseres Landes sein. Wir können Verantwortung auf und neben dem Platz zeigen.

Sports Illustrated: Also hätten Sie auch in Katar vor Ort keine Scheu, kritische Punkte anzusprechen?

Goretzka: Nein, definitiv nicht. Das hatte ich aber auch in der Vergangenheit nicht.

Leon Goretzka by Markus Jans
Eine echte Führungspersönlichkeit: Leon Goretzka will auch in Katar mit seiner politischen Meinung nicht hinterm Berg halten
Credit: Markus Jans
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Sports Illustrated: Sind die Debatten um Katar ein Thema im Team, in der Kabine?

Goretzka: Das bleibt nicht aus bei dieser medialen Aufmerksamkeit und den vielen wichtigen Diskussionen darüber. Über die nicht sportlichen Themen wird bislang ja fast mehr berichtet als über die sportlichen Themen der WM. Das besprechen wir auch.

Sports Illustrated: Würden Sie es begrüßen, wenn während der WM der Sport wieder stärker im Fokus steht?

Goretzka: Natürlich sind wir in erster Linie dort, um Fußball zu spielen und sportlich erfolgreich zu sein. Trotzdem wollen wir – und diese Entwicklung gehen wir schon seit einigen Jahren – solche sportlichen Highlights und die Aufmerksamkeit nutzen, um für unsere Werte einzustehen. Das werden wir auch in Katar tun. Und klar ist auch, dass diese Initiativen dann am erfolgreichsten sind, wenn sie Hand in Hand gehen mit sportlichen Erfolgen.

Sports Illustrated. Können Sie es nachvollziehen, dass es Fans gibt, die das Turnier in Katar boykottieren?

Goretzka: Diese Situation ist so noch nie da gewesen. Da gilt es, Verständnis zu zeigen und zu akzeptieren, wenn jemand das schlicht und ergreifend ablehnt. Aber ich hoffe, dass wir mit unserer Leistung die Menschen wieder für die Nationalmannschaft begeistern: Mit Teamgeist, Spielfreude und Erfolg. Und auch, indem wir als Botschafter unseres Landes unserer Verantwortung gerecht werden.

Sports Illustrated: Vor Spielen verbringen Sie viel Zeit in Hotels. Wenn Sie den Fernseher anschalten und Nachrichten sehen, wird vom Krieg in der Ukraine berichtet, der Energiekrise oder der Corona-Pandemie: Zappen Sie dann weg, weil Sie den Fokus auf das Spiel legen müssen?

Goretzka: Ich bin schon in der Lage, mir mittags Nachrichten anzusehen, und ich schaffe es trotzdem abends, mich komplett aufs Spiel zu fokussieren. Insgesamt leben wir aber alle – und das betrifft natürlich nicht nur uns Fußballer – in einer komplizierten Zeit.

Leon Goretzka: "Über allem stehen die Fragen der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes."

Sports Illustrated: Sie sind jetzt 27 – ein Alter, in dem viele richtig ins Berufsleben starten, an eine Familie denken. Gleichzeitig ist die Situation der Menschen in Deutschland – es reicht ja ein Blick auf die Energieversorgung – und die Zukunft so unsicher wie seit Jahrzehnten nicht. Können Sie sich da reinfühlen?

Goretzka: Natürlich. Ich habe ein soziales Umfeld und viele Freunde, die sich in dieser Situation befinden. Man spürt, dass unsere Generation deutlich politischer geworden ist. Die Energiekrise betrifft uns diesen Winter noch etwas mehr, aber über allem stehen nach wie vor die Fragen der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes. Ich kann nachvollziehen, dass es große Ängste gibt. Wenn sich plötzlich ein grüner Wirtschaftsminister vor einem Scheich Katars verbeugt, um an Gas für Deutschland zu kommen, dann weiß man, in was für einer komplizierten Situation wir stecken.

Sports Illustrated: Haben Sie sich aufgrund der aktuellen Lage in Ihrem Alltag umgestellt, Ihr Verhalten geändert?

Goretzka: Der Fußball wird und muss sich verändern, wenn er mit der Zeit gehen will. Und dazu gehört, dass man sich intensiver mit den Themen beschäftigt. Es beginnt mit Kleinigkeiten wie Trinkbechern. Dass wir Recup-Becher statt Einweg-Plastikbechern verwenden, dass wir auch mit dem Zug oder dem Bus zu einem Spiel fahren, anstatt zu fliegen. Wir werden uns nie hinstellen und behaupten können, dass wir alles richtig machen – aber es sind Schritte in die richtige Richtung.

Leon Goretzka by Markus Jans
Blickt über den Horizont des Profifußballs: Im Interview mit Sports Illustrated zeigt sich Leon Goretzka als politisch äußerst engagiert und aufgeklärt
Credit: Markus Jans
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Sports Illustrated: Welche Rolle spielt der Fußball 2022, welchen Zweck erfüllt er? Gerade in der heutigen Zeit und einer Gesellschaft, die immer weiter auseinanderdriftet?

Goretzka: Neben den akuten Themen und Krisen wie etwa Klima, Corona oder Energie ist es die allergrößte Aufgabe der Politik, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Gerade wenn dieser Zusammenhalt – wie aktuell durch das Abrutschen der wirtschaftlichen Situation – brüchig wird. Hier besitzt der Fußball eine gewisse Kraft, unabhängig von der Gesellschaftsschicht: Im Stadion versammeln sich alle in einer Kurve, stehen untergehakt zusammen und singen das gleiche Lied. Das sind Momente, in denen der Fußball eine große Bedeutung hat.

Sports Illustrated. Gemeinsam Fußball schauen: Das wird bei dieser WM im Winter nicht so einfach.

Goretzka: Das Live-Erlebnis – zum Stadion zu fahren und die WM rund ums Stadion zu erleben – gestaltet sich für die meisten unmöglich. Allein aus finanzieller Sicht. Also wird man darauf angewiesen sein, das Turnier im eigenen Land zu einem Fan-Erlebnis zu machen. Viel wird von unserer sportlichen Performance abhängen: Wenn wir es schaffen, dass die Menschen sich mit uns identifizieren und sehen, dass wir uns auf dem Platz für unser Land zerreißen, dann werden die Fans wieder geschlossen an unserer Seite stehen: Ob zu Hause vor dem Fernseher, mit Freunden in der Kneipe oder im Vereinsheim oder bei Public Viewings, ist da bei dieser WM, zwei Jahre vor der Heim-EM, fast zweitrangig.

 


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