Fußball-EM Frauen

Giulia Gwinn über Frauenfußball: "Noch lange nicht am Ende des Weges"

Giulia Gwinn ist erst 25 – doch bei der EM in der Schweiz führt sie Deutschlands Fußball-Nationalteam als Kapitänin an. Bei Sports Illustrated spricht sie über die Erwartungen ans Turnier, ihren Führungsstil – und warum sie manchmal bewusst aneckt.

Giulia Gwinn beim Sports-Illustrated-Shooting
Credit: Sports Illustrated
 

Giulia Gwinn fühlt sich wohl vor der Kamera – das ist bei unserem Fotoshooting in einem Münchner Studio schon nach wenigen Minuten klar. Richtig gut wird die Laune aber, als die Kapitänin der Nationalmannschaft auch die Kontrolle über die Playlist übernimmt. Dass der Party-Schlager "Wackelkontakt" regelmäßig in der Kabine und im Auto läuft, bedarf keiner Erläuterung.

Die 25-Jährige ist absolut textsicher. Einige Wochen später treffen wir die Nike-Athletin erneut. In Düsseldorf hat sie abends einen TV-Auftritt, zuvor nimmt sie sich in einem Hotelrestaurant am Flughafen Zeit für unser Interview. Bei Pasta, Cola Zero und Cappuccino spricht Gwinn fast zwei Stunden mit uns über ihr erstes Turnier als DFB-Kapitänin.

Sports Illustrated: Die EM in der Schweiz steht an, zum Auftakt trifft die deutsche Mannschaft am 4. Juli auf Polen. Wissen Sie noch, wo und wie Sie das erste deutsche Spiel beim letzten großen Turnier, der WM 2023, verfolgt haben?

Giulia Gwinn: In einem TV-Studio in Mainz gemeinsam mit zwei ZDF-Moderatoren. Ich hatte mir 2022 zum zweiten Mal das Kreuzband gerissen und es deshalb nicht geschafft, auf den WM-Zug aufzuspringen. Das Turnier habe ich als Expertin begleitet, was für mich ein spannender Perspektivenwechsel war – auch wenn ich lieber als Spielerin dabei gewesen wäre.

Sports Illustrated: Mit welchen Gefühlen haben Sie damals das Auftaktmatch verfolgt?

Gwinn: Mit gemischten Gefühlen und einer gewissen emotionalen Distanz. Die Wochen zuvor waren schwierig gewesen, weil ich mich körperlich für die WM bereit gefühlt hatte und guter Dinge war, mitfahren zu dürfen. Als der Anruf kam, dass ich nicht dabei bin, war das ein Schock. Der Verarbeitungsprozess hat eine Weile gedauert. Bis zum Eröffnungsspiel konnte ich Abstand zu dieser Negativität aufbauen. 

Sports Illustrated: Sie haben es angesprochen: Sie wurden bereits zweimal durch die Diagnose Kreuzbandriss zurückgeworfen. Wie haben Sie die Zeit erlebt, und was haben Sie daraus mitgenommen?

Gwinn: Bei Verletzungen wird immer so leicht gesagt: „Du kommst stärker zurück.“ Das wollte ich bei meinem ersten Kreuzbandriss 2020 aber anfangs gar nicht hören, weil ich es liebe, im Team unterwegs zu sein, und es zunächst so brutal für mich war, aus dieser Gemeinschaft für eine lange Zeit herausgerissen zu werden. Ich habe eine Weile gebraucht, um wieder positiv denken zu können. Bei meiner zweiten Verletzung war es leichter, weil ich wusste, dass ich es schon einmal geschafft hatte – und vor allem, dass ich es als Chance begreifen muss, an mir zu arbeiten.

Sports Illustrated: Wie meinen Sie das?

Gwinn: Jede Verletzung ist eine Challenge, als Mensch zu wachsen. Das musste ich aber erst lernen. Man hat die Gelegenheit, an Dingen zu arbeiten, die im Profi-Alltag untergehen – körperlich und mental. Ich bin deutlich selbstsicherer zurück auf den Platz gekommen, habe mich getraut, mehr Verantwortung zu übernehmen.

Sports Illustrated: Wäre Ihre Karriere ohne die Verletzungen anders verlaufen?

Gwinn: Es soll jetzt nicht so klingen, als wäre ich froh darüber, dass ich mich verletzt habe, die Reha war eine herausfordernde Zeit mit vielen Tälern und schweren Phasen. Ich würde meine Karriere lieber ohne diese zwei Verletzungen beschreiben, aber sie gehören zum Menschen Giulia Gwinn.

Sports Illustrated: Hat der Fußball für Sie dadurch eine neue Bedeutung bekommen?

Gwinn: Definitiv. Wenn man tagtäglich in der Fußball-Blase steckt und sich nie Gedanken über Verletzungen macht, wird das irgendwann zur Normalität. Ich habe durch die Verletzungen eine ganz andere Wertschätzung für den Fußball bekommen, empfinde mehr Dankbarkeit. Für mich ist es das Schönste, jeden Tag auf dem Platz stehen zu dürfen. Diese Wertschätzung für das Privileg Profifußball versuche ich auch meinen Mitspielerinnen zu vermitteln.

Sports Illustrated: Sie sind seit Februar 2025 Kapitänin der Nationalmannschaft, spielen allerdings auf der Position der Rechtsverteidigerin und agieren folglich nicht im Zentrum des Geschehens. Wie nehmen Sie trotzdem Einfluss auf das Spiel?

Gwinn: Mir hilft, dass ich früher weiter vorne gespielt habe. Deshalb interpretiere ich meine Rolle eher offensiv, schalte mich gerne in das Angriffsspiel ein. Dazu versuche ich, in der Abwehrkette viel zu sprechen, meine Mitspielerinnen zu lenken und ihnen ein gutes Gefühl zu geben. Gerne übernehme ich auch Verantwortung, indem ich die Elfmeter schieße.

Giulia Gwinn beim Sports-Illustrated-Shooting
Giulia Gwinn beim Sports-Illustrated-Shooting
Credit: Sports Illustrated
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Sports Illustrated: Mit Erfolg – Sie haben bislang jeden Elfmeter in einem Pflichtspiel verwandelt.

Gwinn: Mein Papa hat immer zu mir gesagt: „Nimm dir den Elfmeter, wenn du die Chance hast. Was ist das Schlimmste, was dir passieren kann? "Dann verschießt du halt mal einen." Das habe ich heute noch im Kopf. Außerdem komme ich als Abwehrspielerin nicht oft in die Situation, der Mannschaft mit Toren helfen zu können. Deshalb habe ich da ein gutes Mindset entwickelt und lasse den Druck gar nicht an mich ran, sondern versuche, das als Chance zu begreifen. Außerdem hilft mir der Gedanke an Paul Breitner bei den Elfmetern.

Sports Illustrated: Das müssen Sie erklären.

Gwinn: Als Kind fuhr ich mit meinem Papa zum Champions-League-Finale der Frauen 2012 in München. Dort gab es vor dem Olympiastadion eine Aktion, bei der Kinder einen Elfmeter gegen Paul Breitner schießen durften. Mein Papa ermutigte mich, anzutreten. Ich habe dann zweimal getroffen – und gewonnen. Dieses Erlebnis ist hängen geblieben. Ab und zu denke ich mir vor Elfmetern: Wenn du gegen Paul Breitner getroffen hast, dann jetzt ja wohl auch (lacht).

Sports Illustrated: Mit Philipp Lahm hatte die Männer-Nationalmannschaft jahrelang einen Rechtsverteidiger als Kapitän. Auch der jetzige Spielführer Joshua Kimmich spielt wie Sie auf dieser Position. Trend oder Zufall?

Gwinn: Ich glaube nicht, dass man die Rolle an einer Position festmachen kann. Normalerweise spielen Kapitäne häufiger im Zentrum, wo sie mehr Einfluss auf die verschiedenen Mannschaftsteile nehmen können. Das ist aber eine Typ-Frage. Kimmich und Lahm haben über ihre Art, zu spielen und das Team mitzureißen, überzeugt. An Lahm fand ich zudem beeindruckend, dass er kein großer Lautsprecher war, aber die Mannschaft trotzdem auf seine Art intelligent und emotional geführt hat.

Sports Illustrated: Hat sich durch das Kapitänsamt Ihr Verhältnis zur Nationalmannschaft verändert?

Gwinn: Ich versuche, die gleiche Person und gleiche Spielerin zu sein, habe aber ein anderes Verantwortungsbewusstsein. Bevor ich offiziell Kapitänin wurde, durfte ich das schon ein-, zweimal interimsweise machen und habe gespürt, wie besonders es ist, die Binde zu tragen. Wenn es schlecht läuft, gehen die Blicke automatisch zu dir, und du bist dafür verantwortlich, die Mannschaft wieder zu pushen. Ich sehe das als große Chance, weil ich das Gefühl habe, dass ich durch meine zwei Verletzungen deutlich selbstbewusster auftrete und der Mannschaft Energie und meine Erfahrung weitergeben kann – auch wenn ich erst 25 bin.

Sports Illustrated: Ihre Vorgängerin Alexandra Popp war eher laut und extrovertiert. Was für eine Kapitänin sind Sie?

Gwinn: Ich interpretiere die Rolle etwas anders, weil das mehr meinem Typ entspricht. Ich möchte mich als Person nicht verändern müssen, nur weil ich Kapitänin bin. Ich muss nicht auf dem Platz rumschreien, das wäre nicht authentisch. Ich versuche, in hitzigen Momenten auf dem Rasen, während Spielunterbrechungen oder in der Kabine auf meine Mitspielerinnen einzuwirken, Dinge direkt anzusprechen und Lösungen aufzuzeigen. Es ist aber wichtig, dass ich nicht die einzige Spielerin bin, die Verantwortung übernimmt, sondern dass möglichst viele ihre Meinung einbringen.

Sports Illustrated: War das in der Vergangenheit anders?

Gwinn: Es herrschte ein Gefühl in der Mannschaft, dass es viele erfahrene Spielerinnen gibt, die schon lange dabei sind, lautstark auftreten und die Richtung vorgeben. Da haben sich jüngere Spielerinnen nicht so sehr getraut, den Mund aufzumachen. Jetzt gab es in der Mannschaft einen Umbruch, und ich merke, dass mehr Spielerinnen Verantwortung übernehmen wollen.

Sports Illustrated: Was bedeutet Verantwortung für Sie?

Gwinn: Als Kapitänin der deutschen Nationalmannschaft hat man Verantwortung für sich selbst, die Mannschaft und ein Stück weit für ganz Fußballdeutschland. Das spüre ich auch. Die öffentliche Wahrnehmung ist anders. Dieser Rolle möchte ich gerecht werden und in Phasen, in denen es nicht gut läuft, vorangehen und die Mannschaft mitreißen. Das will ich verkörpern – und dabei trotzdem ich selbst bleiben.

Sports Illustrated: Gehen Sie anders in das Turnier, weil Sie sich jetzt für die ganze Gruppe verantwortlich fühlen?

Gwinn: Ich glaube schon. Man muss sich aber immer wieder verinnerlichen, dass die ganze Mannschaft Verantwortung hat, dafür zu sorgen, dass wir ein gutes Turnier spielen. Natürlich stehe ich stärker im Fokus, aber es darf auch nicht mit dem Finger auf eine Person gezeigt werden, wenn es nicht läuft. Das wäre zu einfach.

Sports Illustrated: Wie gehen Sie mit Druck um?

Gwinn: Ich bin sehr perfektionistisch veranlagt, deshalb mache ich mir selbst den größten Druck. Ich möchte immer das Maximum aus mir herausholen. Wenn man beim FC Bayern und in der Nationalmannschaft spielt, hat man automatisch Druck, immer performen und gewinnen zu müssen, da wächst man über die Jahre rein. Deswegen nehme ich den Druck gar nicht so richtig wahr.

Sports Illustrated: Wie äußert sich dieser Perfektionismus bei Ihnen?

Gwinn: Er begleitet mich überall. Das fängt schon bei meinem Zopf an, der immer perfekt sein muss. Sonst gehe ich nicht auf den Platz. Im Alltag muss meine Wohnung aufgeräumt und alles an seinem Platz sein. Mich stört schon, wenn zwei Schuhe nicht ordentlich nebeneinander stehen. Da habe ich einen inneren Monk.
Auf dem Platz bin ich selten zufrieden, reflektiere auch nach Spielen, die wir gewonnen haben, was noch besser werden kann. Ich habe immer das Gefühl, dass noch mehr geht.

Sports Illustrated: Stört Sie das manchmal, stehen Sie sich dadurch gelegentlich selbst im Weg?

Gwinn: Eigentlich nicht, aber für meine Nerven wäre es wahrscheinlich ab und an nicht schlecht, wenn ich es auch mal gut sein lassen und schlechte Spiele schneller abhaken würde. Gerade in englischen Wochen wäre es hilfreich, wenn ich das schneller aus dem Kopf bekommen könnte – und wenn man schlechte Spiele meiner Laune nicht so anmerken würde (lacht).

Sports Illustrated: Sie scheuen sich nicht davor, öffentlich Kritik zu äußern. Wieso ist Ihnen das so wichtig?

Gwinn: Wenn man sich immer nur wegduckt, bewirkt man nichts. Natürlich bekomme ich nicht nur positives Feedback, wenn ich öffentlich meine Meinung äußere. Das halte ich aber aus. Ich bin kein Fan davon, in Interviews immer das zu sagen, was die Masse hören möchte. Man muss anecken, um etwas zu bewirken. Der Frauenfußball hatte immer Pionierinnen, die absichtlich gegen die Wand gerannt sind, um sie dann einzureißen. Ohne Spielerinnen, die ihre Meinung vertreten und den Mund aufmachen, wäre unser Sport in seiner Entwicklung nicht so weit.

Sports Illustrated: Woher nehmen Sie diesen Mut? Liegt Ihnen das im Blut?

Gwinn: Wenn Sie meine Eltern fragen, würden sie das bestätigen (lacht). Früher war ich das komplette Gegenteil: sehr schüchtern, ich habe alles aus der zweiten Reihe beobachtet. Das hat sich im Laufe der Jahre geändert.

Sports Illustrated: Wodurch?

Gwinn: Im Fußball wurden mir viele Dinge nicht in den Schoß gelegt, ich musste immer kämpfen. Deshalb ist es mein Ziel, dabei zu helfen, dass es die kommenden Generationen in unserem Sport leichter haben. Mut zahlt sich am Ende immer aus.

Sports Illustrated: Blicken wir auf die EM: Sie haben einmal gesagt, dass Ihr Alternativberuf Grundschullehrerin wäre. Wie viel Klassenfahrt-Charakter steckt in einem Nationalmannschafts-Lehrgang?

Gwinn: Sehr viel, und das genieße ich total. Man hat das Gefühl, als würde man mit einer Klasse verreisen, nur dass man nebenher noch Fußball spielen darf. Wir haben einen guten Mix aus Spaß, Fokus und Disziplin.

Sports Illustrated: Um im Bild zu bleiben: Sind Sie die Klassenlehrerin?

Gwinn: Ich kann beides sein: Klassenlehrerin und Stimmungskanone. Oder Klassenclown, wenn Sie so wollen (lacht).

Sports Illustrated: Ab wann spüren Sie Vorfreude auf das Turnier?

Gwinn: Es kribbelt immer ab dem Zeitpunkt, an dem man mit dem festen Kader in die Vorbereitung geht und weiß, dass man in dieser Gruppe – wenn keine Verletzung dazwischenkommt – durch das Turnier geht. Und dann natürlich besonders, wenn man vor Ort ist und das erste Mal EM-Luft schnuppert.

Sports Illustrated: Hat die EM für Sie einen höheren Stellenwert, weil Sie das letzte große Turnier verpasst haben?

Gwinn: Klar! Olympia im vergangenen Jahr war zwar auch speziell, weil es seltener als Welt- und Europameisterschaften ausgetragen wird. Aber wie erfolgreich ein Turnier verlaufen kann, hat die Finalniederlage bei der EM 2022 nicht gezeigt. Auch wenn wir den Titel nicht geholt haben, habe ich gespürt, was für ein Hype so ein Turnier in Deutschland entfachen kann. Deshalb möchte ich die kommende EM mit der gleichen Freude angehen. Es ist schön, dass die EM in einem Nachbarland stattfindet und Freunde und Familie dabei sein können.

Giulia Gwinn beim Sports-Illustrated-Shooting
Giulia Gwinn beim Sports-Illustrated-Shooting
Credit: Sports Illustrated
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Sports Illustrated: Wie viel Organisationsaufwand steckt als Kapitänin für Sie in so einem Turnier?

Gwinn: Uns wird viel vom Team im Hintergrund abgenommen. Trotzdem darf der Mannschaftsrat in vielen Themen mitentscheiden – sei es bei der Unterkunft oder Teamaktivitäten. Generell organisiere ich gern Dinge, mache das auch beim FC Bayern. Meist fällt mir immer etwas Kreatives ein, was wir als Mannschaft unternehmen können.

Sports Illustrated: Und bei der EM-Prämie?

Gwinn: Da auch. Allerdings waren die Verhandlungen kurz, schon das erste Angebot des DFB kam unseren Vorstellungen nahe.

Sports Illustrated: Wie wichtig ist der Teamgeist für den Erfolg bei der EM?

Gwinn: Für mich ist das der größte Schlüssel. 2022 ist es uns gelungen, während der Vorbereitung einen unglaublichen Teamgeist zu kreieren, der uns durch das Turnier getragen hat. Wenn man sich abseits des Platzes gut versteht und das Gefühl hat, sich aufeinander verlassen zu können, wirkt sich das positiv auf den Fußball aus. Deshalb finde ich die Vorbereitungsphase extrem wichtig. Sie entscheidet, ob man sich als Team findet oder nicht.

Sports Illustrated: Wie kann man das beeinflussen?

Gwinn: Teamspirit kann man nicht künstlich erzeugen. Ich war bei der letzten WM nicht dabei, hatte aber von außen das Gefühl, dass hier die letzten und vielleicht entscheidenden Prozentpunkte nicht erreicht werden konnten, um ein erfolgreiches Turnier zu spielen. Man kann die Stimmung durch Teamaktivitäten pushen, ich glaube aber, dass man sich am besten kennenlernt, wenn man viel Zeit miteinander verbringt. Ob sich ein besonderer Geist entwickelt, entscheiden die Charaktere innerhalb einer Mannschaft.

Sports Illustrated: Man wirkt von außen authentisch und sympathisch. Sind Sie auf dem Platz zu nett?

Gwinn: Mir hat Sophia Kleinherne bei einem Ligaspiel mal einen Zahn ausgeschlagen, ich glaube nicht, dass wir zu nett sind (lacht.) Spaß beiseite: Es ist kein Nachteil, dass wir nach außen authentisch und sympathisch wirken, weil wir das als Mannschaft auch sind. Auf dem Platz müssen wir lernen, manchmal noch dreckiger zu spielen und dem Gegner wehzutun. Das haben andere Nationen stärker verinnerlicht.

Sports Illustrated: Im Männerfußball gibt es immer wieder Diskussionen um die sogenannten „Typen“, die heute fehlen würden. Gilt das auch für den Frauenfußball?

Gwinn: Klar braucht man solche Typen auch im Frauenfußball. Das muss ein Ziel sein: unsere Persönlichkeit noch mehr zu zeigen, zu Gesichtern des Sports zu werden. Dafür muss man sich trauen, öffentlich seine Meinung zu vertreten – auch wenn es Gegenwind gibt. Nur so entwickeln sich Vorbilder und Typen.

Sports Illustrated: Sind Sie mittlerweile ein Vorbild für junge Spielerinnen? Spüren Sie eine andere Wahrnehmung innerhalb der Mannschaft?

Gwinn: Ich war bei der WM 2019 eine der Jüngsten im Kader, habe im ersten Spiel gleich ein Tor erzielt. Seitdem hat sich diese Wahrnehmung verändert – öffentlich, aber auch innerhalb der Mannschaft. Ich werde einerseits öfter erkannt, junge Mädchen tragen mein Trikot, was ein tolles Gefühl ist. Andererseits merke ich, dass ich als Ansprechpartnerin innerhalb der Mannschaft immer wichtiger werde.

Sports Illustrated: Wann würden Sie von einem erfolgreichen Turnier sprechen?

Gwinn: Mein Perfektionismus würde es mir verbieten, wenn ich nicht den Titel holen wollen würde. Das Wichtigste ist aber, dass wir uns als Team finden, in jedes Spiel alles reinwerfen und den deutschen Frauenfußball gut repräsentieren.

Sports Illustrated: Vor der WM 2023 hatte Alexandra Popp das Turnier im Sports-Illustrated-Interview als „Richtungsweiser für den deutschen Frauenfußball“ bezeichnet. Gilt das auch für die kommende EM?

Gwinn: Eine EM ist immer richtungsweisend, weil für den Zeitraum des Turniers große Aufmerksamkeit auf dem Frauenfußball liegt. Das ist eine Chance, die wir nutzen müssen, um die positive Entwicklung des Sports weiter voranzutreiben und die letzte WM vergessen zu machen.

Sports Illustrated: Ist diese Entwicklung wirklich so positiv? Es gab Zeiten, in denen das DFB-Team auf europäischer Ebene nahezu unschlagbar war. Das ist vorbei. Es entsteht der Eindruck, als würde der deutsche Frauenfußball im internationalen Vergleich stagnieren.

Gwinn: Von Stagnation zu sprechen, wäre falsch. Die Bundesliga erlebt einen Boom und lockt immer mehr Fans in die Stadien. Bei der Nationalmannschaft haben wir einen Umbruch hinter uns und stecken noch in der Findungsphase. Wir haben aber einen Kern an Spielerinnen, um in den nächsten Jahren erfolgreich zu sein. Außerdem haben sich die anderen Nationen weiterentwickelt, gerade Spanien und England.

Sports Illustrated: Was machen diese Nationen besser als Deutschland?

Gwinn: Ich würde nicht von besser, sondern von anders sprechen. Spanien hat eine eingespielte Mannschaft und eine fertige Spielphilosophie. Und England ist ein Vorreiter des Frauenfußballs. Die Strukturen dort sind professioneller und finanzkräftiger als in Deutschland. Trotzdem bin ich mir sicher, dass wir bei der EM mit diesen Nationen mithalten können.

Sports Illustrated: Welche gesellschaftliche Bedeutung hat der Frauenfußball in Deutschland?

Gwinn: Eine sehr große. Es ist ein Zeichen von Stärke, dass es der Frauenfußball in Deutschland geschafft hat, sich gegen alle Widerstände zu etablieren. Es macht mich stolz, Teil dieser Entwicklung zu sein. Wir sind aber noch lange nicht am Ende des Weges und bei 100 Prozent angelangt.

Sports Illustrated: Auf einer Skala von 1 bis 100 Prozent: Wo steht der Frauenfußball aktuell?

Gwinn: Ich würde sagen: aktuell bei 70.

Sports Illustrated: Wieso spielen Sie eigentlich Fußball? Was begeistert Sie daran am meisten?

Gwinn: Fußball ist die größte Leidenschaft, die ich jemals erfahren habe. Als ich klein war, wollte meine Mama nicht, dass ich Fußball spiele. Deshalb musste ich viele Sportarten ausprobieren. Keine hat mich so gepackt wie der Fußball. Ich bin kein Fan von Einzelsportarten, die tägliche Arbeit in einem Team, gemeinsam Erfolge zu feiern und durch Täler zu gehen, sind für mich die Essenz des Sports. Deshalb ist es ein umso größeres Geschenk, das beruflich machen zu dürfen.

Giulia Gwinn beim Sports-Illustrated-Shooting
Giulia Gwinn beim Sports-Illustrated-Shooting
Credit: Sports Illustrated
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Sports Illustrated: Sie haben kürzlich ein Buch veröffentlicht. In "Write your own story" schreiben Sie im Vorwort: "An die kleinen und großen Träumerinnen dieser Welt." Wieso sind Träume für Sie so wichtig?

Gwinn: Weil es sich immer lohnt zu träumen. Ich bin als kleines Mädchen mit einem scheinbar unrealistischen Traum gestartet und habe immer daran geglaubt, auch wenn es Rückschläge gab. Deshalb möchte ich mit dem Buch meine Geschichte erzählen und junge Mädchen ermutigen, immer an Träume zu glauben und hart dafür zu arbeiten. Deshalb sind Träume ein zentraler Bestandteil meines Lebens – als Vision und Ansporn.

Sports Illustrated: Was Sie dagegen nicht mögen, ist, wenn Sie als Influencerin bezeichnet werden. Was stört Sie an dem Begriff, und wie wägen Sie ab, was Sie auf Social Media teilen?

Gwinn: Ich bin Fußballerin und keine Influencerin und möchte auch so wahrgenommen werden. Deshalb haben die meisten Inhalte auf meinen Kanälen Fußballbezug. Trotzdem bin ich eine junge Frau, die auch mal etwas Privates teilen und die Fans an meinem Leben teilhaben lassen möchte. Das Wichtigste ist, dass ich auf Social Media authentisch bleibe, deshalb würde ich das auch nie an eine Agentur abgeben. Es ist für mich eine schöne Nebensache, wird aber nie so wichtig sein wie der Fußball.

Sports Illustrated: Gibt es Momente, in denen Ihnen die ganze Aufmerksamkeit zu viel wird?

Gwinn: Auf Social Media nicht, weil ich selbst steuern kann, was ich preisgebe und wie viel Angriffsfläche für Kommentare ich biete. Im Alltag werde ich deutlich öfter angesprochen und nach Fotos oder Autogrammen gefragt, das ist meistens auch schön. Manchmal gibt es aber auch unangebrachte Situationen.

Sports Illustrated: Zum Beispiel?

Gwinn: Wenn ich mit meiner Familie beim Essen bin. In diesen Momenten wäre mehr Anonymität schön.

Sports Illustrated: Neben dem Fußball studieren Sie Sportmanagement. Wie kam es dazu?

Gwinn: Ich wollte einen Ausgleich für meinen Kopf haben, um nicht nur über Fußball nachzudenken. Ich mache mir noch keine konkreten Gedanken über die Zeit nach der Karriere, aber Sportmanagement interessiert mich, gerade auch die Blicke hinter die Kulissen des Profisports, abseits von Taktik und Training. Ich könnte mir einen Trainerjob nur schwer vorstellen. Management passt mehr zu meinem Organisationstalent.

Sports Illustrated: Trifft man Sie gelegentlich im Hörsaal?

Gwinn: Ich absolviere ein Fernstudium, habe zum Glück keine Präsenzveranstaltungen, und mir fehlt nur noch die Bachelorarbeit. An die Regelstudienzeit halte ich mich aber nicht gerade (lacht).

Sports Illustrated: Sie sind großer Schlager-Fan. Woher kommt diese Leidenschaft?

Gwinn: Ich liebe Schlager, weil er mir gute Laune macht. Ich war früher gern mit der Mannschaft am Ballermann, das ist heute leider nicht mehr so leicht möglich. Ich mag es, wenn die Texte simpel sind, Spaß machen und alle in der Kabine mitsingen können.

Sports Illustrated: Welcher Song würde im Falle des EM-Titels in der Kabine laufen?

Gwinn: Wahrscheinlich "Cotton Eye Joe", weil er uns an die EM 2022 erinnert – vielleicht haben wir aber auch ein neues Lied und einen neuen Tanz. Da wird sich schon etwas finden.



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