Fußball im Krieg: Ukraine-Meister Shakhtar Donetsk spielt seit 2014 im Exil
- Ukrainische Meister Shakhtar Donetsk spielt seit 2014 im Exil
- Shakhtar Donetsk absolviert CL-"Heimspiele" in Gelsenkrichen
- Transfer-Gewinne fließen in medizinische Versorgung der Soldaten
"Wie eine ausgepresste Zitrone", sagt Yukhym Konoplya. So fühlt er sich nach einer dieser Nächte, in der es draußen vor seiner Wohnung in Kyjiw wieder einmal kracht und knallt. Zwar, sagt der 25-Jährige, sei es in der Hauptstadt sicherer als beispielsweise in Charkiw. Aber auch hier gibt es diese Nächte, in denen der Vater einer kleinen Tochter aufschreckt – vom Geräusch "der Arbeit unserer ‚Patriots‘, die Raketen und bomben zerstören. Und der ‚Shaheds‘, das ist eine art Drohne."
Yukhym Konoplya ist Verteidiger beim ukrainischen Topklub Shakhtar Donetsk. Als er sich dem Zoom-Interview zuschaltet, bleibt die Kamera aus. Ob er sie nicht anmachen könne? Das wäre irgendwie komisch, denn bei ihm sei es dunkel, sagt er. Stromausfälle gehören in Kyjiw, wie in der gesamten Ukraine, zum Kriegsalltag, da Russland gezielt Kraftwerke und kritische Infrastruktur unter Beschuss nimmt.
Licht wäre klasse. Noch viel lieber wäre es Konoplya aber, er könnte endlich wieder nur über Fußball sprechen – über Shakhtar, über die ukrainische Nationalmannschaft, für die er bei der EM in Deutschland im vergangenen Sommer die rechte Außenbahn entlangwetzte, oder die aktuelle Champions-League-Saison und Shakhtars "Heimspiele" auf Schalke.
Aber seit dem 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine überfiel, leben Yukhym Konoplya und seine knapp 40 Millionen Landsleute im Krieg. Und ob ausgepresst wie eine Zitrone oder nicht: Auch am Morgen nach dieser durchwachten Nacht haben sich Konoplya und seine Kollegen wieder aufgemacht in den 20 Kilometer von Kyjiw entfernten Sviatoshyn Olympic Complex, wo Shakhtar trainiert.
"Manchmal, wenn man das alles liest, wenn man die ganze Nacht nicht geschlafen hat", sagt Shakhtar-CEO Sergiy Palkin, "ist es schwierig, sich auf etwas zu konzentrieren. Man will nichts tun, weil es mental schwer ist, sich in einer starken Position zu halten, um weiterzuleben und zu arbeiten." Doch er sagt auch: "You need to push yourself!" – Man müsse sich immer wieder "pushen".
Der ehemalige Wirtschaftsprüfer, der die Geschicke Shakhtars seit 2004 leitet, erzählt, wie er vor einiger Zeit bei einem Raketenangriff am frühen Morgen auf ein Wasserkraftwerk etwa einen Kilometer von seinem Wohnhaus entfernt glaubte, das Dach flöge davon, und sich kurze Zeit später trotzdem ins Auto setzte. Manchmal mache man sich auf den Arbeitsweg – um festzustellen, "dass ich drei Stunden brauchen werde, um den Klub zu erreichen, weil die Straße durch russische Raketen zerstört wurde und ich das gesamte Gebiet umfahren muss".
Vor einem Ligaspiel in der südukrainischen Stadt Kryvyi Rih wurde kürzlich das bereits gebuchte Teamhotel von Raketen getroffen und zerstört, vier Menschen starben. Zwei Tage später wäre der komplette Shakhtar-Tross dort gewesen. Das alles und dazu die ständige Angst um Familie, Freunde, das eigene Leben. Warum sind sie geblieben?
CEO Sergiy Palkin, der sich einige der spektakuläreren Transfers der jüngeren Fußballgeschichte ans Revers heften kann (darunter Fernandinho, Douglas Costa oder zuletzt Mudryk) und sicher einen Job im Ausland fände. Oder Konoplya, der U20-Weltmeister von 2019 und amtierende Nationalspieler, für den dasselbe gilt.
Warum nicht raus aus dem Land? Warum nicht in Sicherheit? Doch so, das haben die letzten beiden Jahre gezeigt, sind die Ukrainer nicht. Und so sind gerade die Menschen aus Donetsk nicht – der Stadt der "Shakhtar", was auf Ukrainisch so viel bedeutet wie "Bergarbeiter".
Eine Stadt, die das Team seit 2014 und damit seit über zehn Jahren nicht mehr betreten hat. Nicht, seit die Donbass-Region, deren Hauptstadt Donetsk ist, von prorussischen Separatisten eingenommen wurde. Palkin erinnert sich:
"Als wir 2014 unsere Stadt verließen, dachten wir, dass wir in drei Monaten zurückkehren würden. Aber diese drei Monate dauern bereits mehr als zehn Jahre an."
Mehr als zehn Jahre, in denen man nicht mehr im eigenen Stadion, der einst hochmodernen und mittlerweile durch Beschuss beschädigten Donbass Arena spielte. Zur Eröffnung 2009 – Shakhtar war amtierender UEFA-Cup-Sieger – sang US-Star Beyoncé, hier besiegte Spanien Portugal im EM-Halbfinale 2012 im Elfmeterschießen. "Und hier", sagt Rechtsverteidiger Konoplya, "liegt auch mein Herz. Bis jetzt und für immer." Der Mann aus der eigenen Academy erinnert sich an die Atmosphäre in der Arena:
"Mein Vater und ich waren bei jedem Heimspiel im Stadion. Ich war auch ein paarmal Balljunge. Über 50.000 Menschen, überall Orange und Schwarz. Und ich erinnere mich auch an die Atmosphäre, als ich ins Stadion kam und mit vielen Menschen wieder aus dem Stadion ging. Es war wie Blut. Blut, das durch die Adern vom Herzen fließt."
Und auch an die Menschen in Donetsk und in der Region Donbass erinnert er sich: "Arbeiter", seien sie, "stets warmherzig. Und mit einem starken Charakter. Immer ernst, nicht so oft lachend, aber trotzdem gute und ehrliche Menschen." Diese Menschen sind es, für die Shakhtar spielt, seit der Klubgründung 1936 und seit über zehn Jahren als eine Art Leuchtturm Donetsker Identität in der Ferne.
Doch Shakhtar, das sich seine größten Duelle seit jeher mit dem ukrainischen Rekordmeister Dynamo Kyjiw liefert, spielt seit der Invasion nicht mehr nur für den Donbass, sondern für die gesamte Ukraine. Die heutigen "Heimstätten" des Teams sind bezeichnend: Trainiert wird nahe Kyjiw, gespielt, nach Zwischenstationen im Charkiwer Metalist-Stadion seit Anfang 2017 und dem Olympiastadion Kyjiw zu Corona-Zeiten, wie schon ab der Saison 2014/15 wieder im westukrainischen Lviv, in der knapp 35.000 Zuschauer fassenden Lviv Arena.
Es ging, sagt Sergiy Palkin, ab 2014 immer auch darum, ein Zeichen für die ukrainische Einheit zu setzen: Ein Klub aus der Ostukraine trägt seine Heimspiele nun im Westen des Landes aus. Und zumindest das dürfte Wladimir Putins Krieg der Ukraine nun endgültig gebracht haben: die absolute Einheit. Und Shakhtar, der amtierende und 15-malige ukrainische Meister, ist auch dank des Geldes des Oligarchen Rinat Achmetov (bezeichnenderweise Eigner des als Trutzburg des Asow-Regiments zu Berühmtheit gelangten Asow-Stahlwerkes) und einer intelligenten Transferpolitik mittlerweile das einzige konkurrenzfähige Aushängeschild der Ukraine auf der europäischen Fußballbühne.
Heißt: Wann immer Shakhtar spielt, schauen Millionen Ukrainer zu, ob in der Heimat, im Exil oder an der Front bei der Verteidigung ihres Landes. Der britische Kriegsreporter Ed Vulliamy sagt in der Dokumentation "Football must go on" von 2023:
"Ich würde gerne wissen, unter welchen Umständen die Menschen die Spiele von Shakhtar Donetsk sehen. In Schützengräben werden Telefone an Autobatterien angeschlossen sein. So etwas hat es in der Geschichte des Fußballs oder des Krieges noch nie gegeben."
Valeriy Bondar, Verteidiger Shakhtars und wie Konoplya ein Sprössling der eigenen Academy, bringt auf den Punkt, warum Shakhtar aktuell weit mehr ist als ein Fußballteam. Er sagt:
"Mithilfe des Sports können wir der Welt sehr wichtige Botschaften vermitteln und im Ausland an den Krieg erinnern. Und wenn wir unsere Aktivitäten im Land fortsetzen, bedeutet das, dass wir dieses Leben weiterführen und alle Ukrainer jeden Tag ihren wirklich starken Charakter zeigen."
Solange Shakhtar spielt, herrscht also ein Stück Normalität. Jeder Sieg ist ein kleiner Moral-Booster. Und auch ein kleines sportliches Wunder. Denn das Gesicht des Klubs hat sich – gezwungenermaßen – deutlich verändert, seit die FIFA ausländischen Spielern im Frühjahr 2022 erlaubte, ihre Verträge in der Ukraine ohne Umschweife aufzulösen und als Free Agents ins Ausland zu wechseln. Palkin sagt:
"Mitte 2022, als beschlossen wurde, die ukrainische Meisterschaft fortzusetzen, mussten wir den Klub von Grund auf neu aufbauen, denn die Hälfte des Kaders war verschwunden, die ausländischen Trainer waren weg."
Zum Zeitpunkt der Verabschiedung von "Annex 7" durch die FIFA habe sich der Shakhtar-CEO bereits in Wechselverhandlungen mit ausländischen Spielern befunden. Er hätte, das beteuert er seither immer wieder, niemandem einen Stein in den Weg gelegt. So aber erhielt der Klub keinen Cent an Transfererlösen, saß auf über 40 Millionen Euro Miesen.
Das Management-Team um Palkin und Vereinsikone Darjo Srna, Sportdirektor Shakhtars, warf einen "Hail Mary" und setzte auf junge ukrainische Talente. Die Helden kamen nach dem Bruch nicht mehr vom Zuckerhut, sondern hießen Konoplya, Sudakov, Bondar oder Mykhaylo Mudryk, der Anfang 2023 für 70 Millionen Euro (plus 30 Millionen Euro Boni) zum FC Chelsea wechselte. Ein Transfer, der nicht nur für Shakhtar Gold wert war, denn in etwa ein Viertel des Geldes floss in die medizinische Versorgung der Soldaten von Mariupol.
Junge Leute müssen in Kriegszeiten schneller erwachsen werden. Das gilt auch in sportlicher Hinsicht, gerade bei Shakhtar. Und die Umstände, unter denen das junge Team antritt, sind zumindest im europäischen Spitzenfußball ein Novum. Der Luftraum über der Ukraine ist gesperrt. Für das Team beginnt beinahe jede Auslandsreise mit einer Busfahrt von Lviv zum Flughafen der polnischen Stadt Rzeszów. Eine normalerweise etwa dreistündige Fahrt zuzüglich des Wartens an der Grenze. Reist das Team ab Kyjiw, dauert alles noch länger.
Als man vergangenen Dezember in der Champions League gegen Porto antrat, war der Tross zwei Tage unterwegs. Man verlor nach hartem Kampf schließlich 3:5. CEO Palkin sagt: "Für uns bedeutet diese Logistik, dass man, wenn man am Zielort ankommt, bereits weniger wettbewerbsfähig gegenüber dem Gegner ist." Umso bemerkenswerter sind die Achtungserfolge, die Shakhtar seit Beginn der Invasion in Europa erzielen konnte: ein 4:1-Sieg gegen RB Leipzig im September 2022; ein 1:1 gegen Real Madrid im darauffolgenden Oktober oder ein 1:0-Sieg gegen den FC Barcelona im November 2023.
"Unter solchen Bedingungen zu leben", sagt Sergiy Palkin, "ist sehr schwierig, aber dabei Ergebnisse zu erzielen, sportliche Ergebnisse, ist noch schwieriger. Man kann das Leben unserer Jungs nicht mit dem der Europäer vergleichen, gegen die wir spielen. Wenn unsere Jungs im Ausland etwas gewinnen, werden sie zu Helden."
Valeriy Bondar ist der Gedanke, sich in irgendeiner Form zu beklagen, trotzdem zuwider:
"Wir können uns nicht beschweren, denn es ist unser Militär, das es schwer hat. Aber ja, ich muss zugeben, dass Fußball die meisten Menschen, auch unser Militär, für einige Zeit ablenkt. Deshalb versuchen wir, die Ukrainer mit unserem Spiel zu erfreuen und unser Bestes zu geben."
Das junge Team weiß, wozu es durchhält, für wen es antritt. Nicht nur sportlich ist Shakhtar im Krieg zu einem Leuchtturm für die gesamte Ukraine geworden. Durch Benefizspiele und Spenden aus anderen Erlösen gewährleistet das Team Hilfen in Millionenhöhe für Zivilbevölkerung und Armee. Man kümmert sich um Familien, kriegsverwaiste Kinder, bezahlt Operationen für Soldaten. Im ehemaligen VIP-Bereich der Lviv Arena leben jetzt ukrainische Binnenflüchtlinge. Doch auch "Ukraine’s Club" wünscht sich letztlich wohl nur ein siegreiches Kriegsende noch sehnlicher als die Rückkehr in die alte Heimat.
Sergiy Palkin sagt: "Viele Journalisten fragen mich: ‚Sind Sie sicher, dass Sie zurückkehren werden?‘ Aber wir alle glauben, dass wir zurückkehren werden, denn für uns
ist es schwierig, ohne den Traum von einer Rückkehr zu leben." Darauf hofft auch Verteidiger Valeriy Bondar: "Für mich ist es ein Traum, in die Donbass Arena zurückzukehren, dort zu spielen und die Champions-League-Hymne und die ukrainische Hymne zu hören."
Der Weg dorthin führt Shakhtar Donetsk in dieser Saison über die Arena auf Schalke, wo der Verein in der Champions League seine Heimspiele austrägt. Heimischer als in Warschau oder Hamburg, wo man in den vergangenen beiden Saisons zu Gast war, könnten sich die Ostukrainer dort durchaus fühlen. Denn auch der FC Schalke 04 ist nicht nur Arbeiter-Verein, sondern Bergarbeiter-Verein. So wie Shakhtar, dessen CEO sagt:
"Nach dem, was 2014 passierte und die Russen alles taten, um uns aus unserer Heimatstadt zu verstoßen, wurde es dunkel in Donetsk. Und wir wurden wie Bergleute. Denn für Bergleute ist es immer wichtig, Licht in der Dunkelheit zu haben."
Oder wie es im auf Schalke oft zu vernehmenden "Steigerlied" heißt: "Ein helles Licht bei der Nacht."
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