In my mind

René Adler: "Dieses Gefühl von Austauschbarkeit war brutal für mich"

Ex-Nationaltorhüter René Adler blickt bei Sports Illustrated zurück auf den unerwarteten Verlauf seiner Karriere - und was er dadurch über sich selbst lernte. Dabei spricht er über Verletzungen, mentalen Stress und den geplatzten WM-Traum 2014.

René Adler
Credit: Maximilian König
  • René Adler über mentalen Druck in seiner Profi-Karriere
  • Ex-Nationaltorhüter Adler: "WM-Aus 2014 enttäuschend"
  • René Adler: "Mein Geist wollte, mein Körper konnte nicht mehr"
 

Lange lief alles nach Plan. Ich war Stammspieler in den Nachwuchs-Bundesligen und den Jugend-Nationalmannschaften. Experten bezeichneten mich als das große Torwart-Talent und kommende deutsche Nummer 1, phasenweise riefen täglich Scouts europäischer Top-Vereine bei meinen Eltern an.

Ohne überheblich zu sein, kann ich heute sagen, dass ich zu Beginn meiner Profi-Karriere zu den größten europäischen Talenten auf meiner Position gehörte. Keine Sorge, ich schreibe das hier nicht, um zu zeigen, wie toll René Adler doch eigentlich ist. Denn trotz des Anspruchs damals an mich und von mir: Selbstbewusstsein war oft etwas, das ich mir erarbeiten musste.

Ich fand es eher vermessen und überheblich, groß zu denken. Lieber wollte ich mich etwas kleiner machen. Ich bin ein sensibler Mensch, der viel nachdenkt. Ich versuchte damals, die Lobeshymnen auszublenden. Ich befürchtete, dass ich vielleicht etwas vom Gaspedal gehen würde, wenn ich wirklich denken würde, ich sei der Beste.

René Adler über mentale Belastung im Fußball

Das Paradoxe: Genau das war mein Ziel gewesen, dem ich alles unterordnete. Ich war lange davon überzeugt: Je mehr ich an Trainingseifer, Fokus und Verzicht reinsteckte, desto mehr Erfolg, Leistung und Ansehen bekäme ich. Diese Gleichung ging lange gut, meine Karriere verlief stets nach oben, Widerstände oder Rückschläge waren mir fremd. Das sollte sich jedoch rächen – nicht erst 2010.

Als ich mit 20 bei Bayer Leverkusen war, ging die Gleichung zum ersten Mal nicht mehr auf. Der Durchbruch in der ersten Mannschaft blieb mir vorerst verwehrt. Als Reaktion pushte ich mich noch intensiver – und brach mir die Rippen. Unter all dem Druck gab mein Körper nach. Auf einmal hatte ich, der proklamierte DFB-Torhüter der Zukunft, Zulassungsunterlagen für ein Studium in der Hand.

René Adler bei Bayer Leverkusen 2009
René Adler bei Bayer Leverkusen 2009
Credit: Imago
x/x

Da ich nie hatte lernen müssen, mit Rückschlägen umzugehen, fühlte ich mich überfordert mit der Angst, meine Karriere sei bereits vorbei. Erst mithilfe eines Mentaltrainers, der mir zeigte, dass es auch ein Leben abseits des Fußballs gibt, fand ich wieder zu mir. Ich nahm etwas Druck raus – und genau da klappte es. Michael Skibbe stellte mich 2007 gegen Schalke auf, die Rolle als Stammtorhüter bei Leverkusen gab ich nicht mehr her, ein Jahr später debütierte ich in der Nationalmannschaft.

Adler: "Balance geriet völlig aus dem Gleichgewicht"

Alles verlief wieder nach Plan. Und da ergab sich das nächste Ziel: Die WM 2010. Für mich war klar: Das wird mein Turnier, mein Durchbruch in die Weltspitze. Jogi Löw hatte angekündigt, auf mich zu setzen. Der Druck stieg. Die Folge? Ich verfiel in alte Muster: Ich schraubte das Pensum hoch, war besessen von diesem einen Ziel, ließ Hobbys und Mentaltraining schleifen.

Die Balance zwischen Anspannung und Entspannung geriet völlig aus dem Gleichgewicht. Im April 2010 brach ich mir erneut die Rippen. Mein Geist wollte, mein Körper konnte nicht mehr. Es waren dubiose Gefühle, als ich ein paar Wochen später die Praxis von Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt verließ. "Du kannst bei der WM nicht spielen." Leere. Und eine Art von Erleichterung – dass er mir die Entscheidung zum Teil abgenommen hatte.

Ich selbst hätte es mir wohl nicht eingestehen können. Nach der Diagnose musste ich einfach weg, fuhr in den Urlaub, vermied es, das Ganze an mich ranzulassen oder zu verarbeiten. Mein Ziel war es, so schnell wie möglich wieder fit zu werden. Ich wollte nicht den nächsten Traum, das Spielen in der Champions League, auch noch aufgeben.

Ex-Keeper Adler kann nicht mehr von Couch aufstehen

Von außen betrachtet spielte ich 2010/11 eine der besten Spielzeiten meiner Karriere. Aber innerlich baute ich physisch und mental rapide ab. Mein Knie war stark entzündet, eigentlich war ich spiel- und trainingsunfähig. Ich pushte mich trotzdem weiter. An manchen Tagen konnte ich nicht mal mehr von der Couch aufstehen.

Um mich herum sprachen alle davon, wie gut ich spielte. In mir sagte eine Stimme immer lauter: "Ich kann nicht mehr." Ich beendete die Saison, danach war eine OP unausweichlich. Und plötzlich stand Bernd Leno bei Leverkusen im Tor. Ich kam bei Bayer aus der Jugend, war einer der Publikumslieblinge. Auf einmal riefen die Fans aber nicht mehr meinen Namen, sondern den des Konkurrenten.

Manuel Neuer und René Adler im DFB-Team
Manuel Neuer und René Adler im DFB-Team
Credit: Getty Images
x/x

Dieses Gefühl von Austauschbarkeit war brutal für mich. Ich verfiel in alte Muster, trainierte teilweise sechs Stunden am Stück – und verlängerte dadurch meinen Heilungsprozess. Irgendwann war der Punkt erreicht: Ich überlegte, ob ich mich noch mal neu erfinden kann. Oder ob ich mit 27 meine Karriere beende. Ich entschied mich für Ersteres, rief meinen Mentalcoach an und wechselte mit einem frischen Mindset nach Hamburg.

René Adler: "Verpassen der WM 2014 war enttäuschend"

Mit dem Ziel, eines Tages in die Nationalmannschaft zurückzukehren, fand ich zu alter Stärke. Ich wurde zur Nummer 2 hinter Manuel Neuer, gleichzeitig versicherte mir das Trainerteam einen Platz im Kader für die WM 2014. Kurz vor dem Turnier wurde ich jedoch gestrichen. Im Nachhinein kann ich sagen: Das Verpassen der WM 2014 war für mich deutlich enttäuschender als das Turnier 2010.

Bei der WM in Südafrika weiß ich, dass es meine Schuld war. Ich wusste, dass ich unter Druck in ungesunde Muster verfallen kann, aber dachte, dass ich es allein handeln kann. 2014 hingegen hätte ich es trotz einer schwierigen HSV-Saison verdient gehabt, im Kader zu sein. Sei’s drum.

Danach war für mich klar: Das war meine letzte Chance in der Nationalmannschaft gewesen. Mit dem Wegfall dieses ständigen Ziels änderte sich etwas in mir: Ich wollte einfach wieder Spaß am Fußball haben. Ich wechselte zu Mainz, ließ meine Karriere bei einem tollen Verein ausklingen.

Adler: "Ich stehe immer wieder auf"

Wenn ich heute zurückblicke: Mit dem Wissen, das ich mittlerweile habe, würde ich vieles anders machen. Was ich damals als Stärke verstanden habe – immer wieder über Widerstände zu gehen, immer wieder an seinen mentalen Kapazitäten zu zehren –, erkenne ich im Nachhinein als ein ungesundes Muster.

Ab und an frage ich mich dennoch, wie meine Karriere anders hätte verlaufen können. Habe ich das Maximum herausgeholt? Auf keinen Fall. Wäre ich für Höheres bestimmt gewesen? Vermutlich. Aber ich möchte mich nicht in eine Opferrolle begeben. Ich bin zufrieden mit meiner Karriere und dankbar für das Privileg, Profi-Fußballer gewesen zu sein.

Denn gleichzeitig ist mir auch eine andere Perspektive bewusst. Es gibt wenige Spieler, die nach elf Operationen immer wieder auf diesem Niveau zurückkehren. Das ist das Positive, was ich mitgenommen habe: Egal, wie viel Mist auch passiert, egal, ob selbst verschuldet oder von außen: Ich stehe immer wieder auf. 



Mit dem Sports Illustrated-Chefredakteurs Newsletter erhalten Sie aktuelle Sport-News, Hintergründe und Interviews aus der NFL, der NBA, der Fußball-Bundesliga, der Formel 1 und vieles mehr.

NEWSLETTER ABONNIEREN 


Mehr Sport-News

Michael Schumachers folgenschwerer Skiunfall ist mittlerweile elf Jahre her. Aber noch immer ist Schumi einer der erfolgreichsten Rennfahrer in der Geschichte der Formel 1. Das waren die größten Grand-Prix-Siege von Michael Schumacher in der Königsklasse. 

Julian Nagelsmann ist neuer Bundestrainer von Deutschland. Zuvor war er Trainer des FC Bayern München. Doch wie verlief seine Karriere bislang? Welche Titel hat er gewonnen? Wer ist seine Freundin? Wie hoch ist sein Gehalt? Alle Informationen gibt's hier.

Den NFL Game Pass könnt Ihr jetzt bei Prime Video buchen. DAZN und Amazon sind eine neue Partnerschaft eingegangen, damit die NFL-Fans in Deutschland alle Spiele auch bei Prime Video schauen können. So viel kostet der NFL Game Pass.