Boxen

Deutschlands neue Box-Hoffnung: Ammar Abduljabbar - der Fighter, der Boxer wurde

Als Kind im Irak kämpfte Ammar Abduljabbar ums Überleben, vergangenen Sommer dann für Deutschland bei Olympia und mittlerweile um das Bleiberecht der eigenen Familie. In Sports Illustrated stellen wir Deutschlands nächste Boxhoffnung vor.

Ammar Riad Abduljabbar aus Hamburg (l.) kämpft gegen Sviatoslav Svyryd
Credit: Torsten Helmke
Sports Illustrated 01/22
Magazin
Sports Illustrated 01/22
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Inhalt

 

Kick Off

24 HOW IT STARTED 
Timo Werner über seine Fußball-Anfänge

 

26 SO MACHT MAN DAS 
Martin Schmitt erklärt uns, wie der perfekte Skisprung gelingt 

 

27 VIER FRAGEN AN ... 
Handball-Nationalspieler Timo Kastening 

 

28 ZAHLEN, BITTE! 
Facts zur Formel 1 

 

29 TROPHY-CHECK
Die Kunstkritik zur Vince Lombardi Trophy 

 

30 SHOPPING
Dinge, die wir mögen – zum Verschenken oder Behalten 

 

32 KULTUR
Sport auf allen Kanälen: Die neuen Filme, Bücher und Serien 

 

34 ESSENTIALS 
Weitsprung-Olympiasiegerin Malaika Mihambo öffnet für uns ihre Sporttasche 

 

35 HISTORY
Ein Football-Helm, der Geschichte schrieb 

 

36 FACES TO WATCH 
Boxer Ammar Riad Abduljabbar, Fußballer Nicolas Seiwald, Fußballerin Nicole Billa 

 

39 AUFSCHNITT 
Der Baseball unter dem Skalpell 

 

40 RANKING
Die Yankees-Cap kennt (und hat) jeder. Diese fünf nicht! 

 

42 FRAGE AN DEN TRAINER
Manuel Baum weiß, wann Fußballvereine ihre Spieler am besten verkaufen sollten 

 

44 KOLUMNE 
Patrick Esume über die Hot Week vor dem Superbowl 

 

46 KOLUMNE
Andrea Petkovic über das Älterwerden als Sportlerin 

 

48 KOLUMNE
Jürgen Schmieder über seine Liebe zu den Clubs aus Los Angeles 
 


Storys

52 COVERSTORY: JULIAN NAGELSMANN 
Der Trainer soll den FC Bayern München in eine neue Ära führen. Wie das klappen kann, verrät er uns im Interview. Zudem erläutert ein Experte die Nagelsmann-Taktik 

 

64 CRISTIANO RONALDO
Der Superstar von Manchester United ist wertvoll für seinen Club – als Fußballer genauso wie als mächtigster Influencer der Welt 

 

70 ROGER FEDERER 
Der Tennis-König kämpft um eine letzte Rückkehr auf den Court. Klappt das? 

 

78 DIE QUARTERBACK- EVOLUTION
Spieler wie Aaron Rodgers und Patrick Mahomes haben das Quarterback-Spiel auf ein neues Level gehoben. Eine Analyse 

 

88 SEBASTIAN VOLLMER
Der ehemalige Patriots-Profi spricht im Interview über die NFL-Games in Deutschland 

 

90 LUKA DONCIC 
Wie der neue Coach Jason Kidd den Mavericks-Star noch besser machen will 

 

96 OLYMPIA
Drei deutsche Snowboard-Hoffnungen im Porträt. Plus: Felix Neureuther über Klima, Spiele in China und die Zukunft des Sports 

 

104 LEON DRAISAITL 
Der deutsche NHL- Superstar spricht mit uns über Wayne Gretzky, Olympia und den Traum vom Stanley Cup 

 

110 ABER SICHER?
Ob man besser eine Maske tragen sollte (oder nicht), war auch im Sport ein lange umstrittenes Thema 

 

116 SI LEGENDS: MICHAEL JORDAN
Vor 30 Jahren kürte ihn Sports Illustrated zum „Sportsman of the Year“ – ein Rückblick 

 

124 WIR WOLLEN DOCH NUR SPIELEN 
Jede Sportkarriere – auch unsere – endet irgendwann. Wie können wir das Ende möglichst lange hinauszögern? Unser Autor macht sich auf die Suche 
 

"ICH BIN EIN UNORTHODOXER BOXER", sagt Ammar Riad Abduljabbar relativ am Anfang unseres Gesprächs: "Wenn Sie meine Kämpfe sehen, werden Sie wissen, was ich meine."

Was er meint, ist ein Kampfstil, der so in keiner Boxschule gelehrt würde. Der 26-jährige Deutsch-Iraker aus Hamburg wechselt fließend zwischen Links- und Rechtsauslage, schlägt aggressiv, beidseitig hart und peitschenartig schnell. Nicht selten lässt er seine Deckung fallen, bietet das Gesicht feil. Schwingt der Gegner, ist Abduljabbar aber oft schon abgetaucht, wippt eine Etage tiefer mit dem Oberkörper erratisch nach links und rechts, zieht den Kopf blitzschnell weg. Und dann: der Konter, der Dampfhammer aus dem Untergeschoss. Zur Leber, zur Schläfe, zum Kinn – ding, dong! 

Eine gewisse Ähnlichkeit zum "Peek-a-boo"-Style, jenem "Guck-guck-Spiel", das Mike Tyson berühmt gemacht hat, ist nicht von der Hand zu weisen. Dieser Stil erlaubt gedrungen-muskulösen Boxern (Abduljabbar ist 1,80 m groß bei einem Normalgewicht von circa 88 Kilogramm), die Distanz zu größeren Gegnern zu verkürzen, ohne dabei ihre Defensive aufgeben zu müssen. Obendrein ist es großes Entertainment, Kämpfern zuzusehen, die eine solche Art zu boxen beherrschen. Und obgleich sich Abduljabbar, mehrmaliger Norddeutscher Meister, jegliches Boxtalent beinahe vehement abspricht ("Ich bin kein talentierter Boxer, sondern ein guter Kämpfer."), ist er ein Boxer, dem man wirklich gerne zusieht. 

Abduljabbars Vater, der seinen Sohn 2010, kurz nach dessen Ankunft in Deutschland, zum Boxen bewegte, war übrigens großer Fan von Mike Tyson. Dem Jungen selbst gab der Sport zunächst wenig. "Ich bin im Irak geboren, und bis zu meinem 14. Lebensjahr war ich auch dort. Das Einzige, was wir kannten, war arbeiten und Geld verdienen. So etwas wie Sport gab es bei uns nicht." Die ersten zwei Jahre im Ring waren hart. Seinem Vater zuliebe blieb er aber dabei. 

Dieser hatte den Irak 2003 zu Fuß in Richtung Deutschland verlassen. Sechs Monate war er unterwegs. Die Hoffnung, die ihn antrieb, war die Heilung seines Sohnes Mukhtar, Ammars jüngerem Bruder, der mit einem Herzfehler geboren wurde. 2010 gelang es dem Vater, die Familie – Ammar, seine beiden Geschwister und die Mutter – nachzuholen. Der Bruder wurde hier erfolgreich operiert. 

Die Zeit bis zum Nachzug war hart — der Vater war fort, im Irak herrschte Krieg. Mit neun begann Ammar zu arbeiten, stand morgens um drei Uhr auf und verkaufte Plastiktüten auf dem Markt. Später schaffte er sich eine Schubkarre, schließlich einen kleinen Lieferwagen an, aus dem er Obst, später Gas verkaufte, außerdem half er auf Baustellen mit. Zur Schule ging er nicht. „Mein ganzes Leben war ein Kampf“, sagt er. Tagtäglich trug er seinen schwerkranken Bruder auf dem Rücken und verteidigte ihn, wenn nötig. "Wo wir waren, in einem Dorf, hatte der Schwächere keinen Platz. Es gab Leute, die ihn anfassen oder schlagen wollten. Das war mein erster Kampf: meinen Bruder zu beschützen, immer." 

Sein bislang berühmtester Kampf war wohl das Viertelfinale des olympischen Schwergewichts-Turniers in Tokio Ende Juli, wo Abduljabbar gegen den russischen Weltmeister Muslim Gadschimagomedov antrat. Der 1,94-m-Hüne aus Dagestan überragte den Hamburger gleich zweimal: in Körpergröße und Reichweite. Und wer nur aus olympischem Anlass Boxen schaute, hätte wohl eine Peinigung Abduljabbars befürchten können. Aber der Deutsche Meister von 2018 lieferte einen Fight, der Lust auf das Boxen und auf diesen Boxer machte. Er schlug schnelle, harte Schwinger, die an diesem Tag leider zu selten ins Ziel fanden, und wurde selbst – das lässt sich bei seinem Boxstil kaum vermeiden – einige Male hart getroffen. Doch so hart die Treffer auch waren, es kam einem so vor, als schmunzelte der Hamburger, um seinem Gegner zu bedeuten: Come on, Junge! Du kannst mir keinen Schmerz zufügen, den ich nicht schon kenne, den ich nicht aushielte. 

Abduljabbar (in blau) gegen Gadschimagomedow
Ohne Furcht: Auch Muslim Gadschimagomedov (in Rot) bekam bei Olympia in Tokyo Abduljabbars Fäuste zu spüren
Credit: Getty Images
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Ein solcher Schmerz könnte ihm und seiner Familie nun allerdings von anderer Seite zugefügt werden: Noch vor Olympia erreichten die Familie zwei Schreiben vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Die Asylanträge seiner Mutter und seines Bruders seien abgelehnt. Ihnen droht nun also die Abschiebung in den Irak. Müsste seine Mutter zurück, sagte Abduljabbar zuletzt wiederholt, würde er alles, was er sich hier aufgebaut habe, zurücklassen und mit ihr gehen. Im Gespräch antwortet der Boxer auf die Frage, ob er denn wütend sei auf die Behörden, auf Deutschland: "Nein, auf gar keinen Fall! Kein Mensch, keine Nation ist perfekt."

Der Sportsoldat führt ein Beispiel an: "Du hast jemanden, der alles für dich getan hat. Er hat dich unterstützt; er hat dafür gesorgt, dass du leben, zur Schule gehen, deinen Traum verwirklichen kannst. Und dann macht diese Person einen kleinen Fehler, was auch immer – würdest du diese Person hassen?", fragt er und antwortet selbst: "Nein, würdest du nicht! Deutschland hat meinen kleinen Bruder gerettet, jetzt sollen er und meine Mutter abgeschoben werden. Sauer bin ich nicht. Ich werde natürlich dafür sorgen, dass es nicht passiert. Man sollte mit Problemen klarkommen, man kann aus ihnen so viel lernen. Ich meine, die Niederlagen haben mich vorangebracht, nicht die Siege." 

Anfang Oktober gab Ammar Riad Abduljabbar sein Profi-Debüt, kämpfte im Cruisergewicht (eine Gewichtsklasse unter dem Schwergewicht) gegen den Ukrainer Sviatoslav Svyryd. Dem versetzte er schon in der ersten Runde eine ganze Reihe so schmerzhafter Leberhaken, dass dessen Betreuer das Handtuch warf. Weitere Profi-Kämpfe sollen bald folgen. "Um der Beste zu werden, muss man auch mit den Besten kämpfen." Kurz vor Olympia 2024 in Paris wird er noch einmal zurück ins Amateurlager wechseln, um erneut um olympisches Gold kämpfen zu können. Dass er als Fünfter, ganz ohne Medaille, aus Tokio zurückkam, arbeitet bis heute in ihm. "Ich weiß ganz genau, was ich will. Und ich erwarte nicht, dass es zu mir kommt. Ich nehme mein Schicksal selbst in die Hand, zu 100 Prozent!"

Mehr Sport-News: 

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